Blühende Ruinen

Die Bundesregierung hofft auf eine Trendwende bis zum Jahr 2020. Doch Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung halten unvermindert an.

aus: Rheinischer Merkur Nummer 21, 2005

von Wolfgang Templin 

 

In Zeiten der Krise werden die Töne schriller und die Zukunftsszenarien düsterer. Uwe Müller, Ostdeutschland – Korrespondent der “Welt“, begleitet den deutschen Vereinigungsprozess seit fünfzehn Jahren. Jetzt beklagt er in seinem neuen Buches den „Supergau Deutsche Einheit“.

 

Sind das nicht zu harte Worte? Man mag die Wortwahl mit Kopfschütteln und Stirnrunzeln quittieren, aber Müllers Zahlen und Befunde belegen das Scheitern aller Hoffnungen auf einen schnellen, gelingenden Annäherungsprozess von alten und neuen Bundesländern. Anders als zahlreiche weitere Publikationen zum Thema deutsche Einheit, die sich an der Mauer in den Köpfen und den wechselseitigen Verständnisdefiziten abarbeiten, konzentriert sich Müller auf die ökonomischen und demographischen Entwicklungsdaten.

 

Im Gegensatz dazu stehen die Bilder und politischen Schlagworte der Politiker. Sie reichen von Helmut Kohls Versprechen schnell blühender Landschaften zu Gerhard Schröders vollmundiger Ankündigung einer Chefsache Ost. Für den Autor haben sich die führenden Politiker über die Parteigrenzen hinweg zu einem Kartell der Gesundbeter formiert. Die jeweilige Regierung will das Scheitern ihrer Politik nicht eingestehen. Und die Opposition? Sie hat Angst, mit der entschiedenen Konzentration auf den Osten Wähler im Westen zu verprellen. Den politischen Ausweichmanövern folgt die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit nur allzu bereitwillig. „Das Dosenpfand oder die Regeln für den Zahnersatz scheinen ihnen weit mehr am Herzen zu liegen als der Aufbau Ost“ schreibt Müller.

 

Bei den Ursachen der Vereinigungsmisere rekapituliert Müller die Vorgeschichte von 1989 und steigt in den „Geschichtskeller der alten Bundesrepublik“ hinunter. Er beschreibt den millionenfachen Abwanderungsprozess aus der SBZ/DDR, den durch Reparationen verstärkten strukturellen Rückschlag für die vormals hochentwickelten mittteldeutschen Industriestandorte. Mit der ruinösen Selbstausplünderungspolitik der späten DDR unter Honecker wurde der Rückstand immer unaufholbarer. Dieser dramatische Niedergang und die mehrfach drohende Zahlungsunfähigkeit der DDR konnte der Bundesrepublik nicht verborgen bleiben, wurde aber sowohl von sozialdemokratischer wie christdemokratischer Seite verdrängt.

 

Nachbau West

Es folgen Helmut Kohls parteitaktisch befördertes D-Mark Versprechen und seiner Wunschprojektion des schnellen Aufholprozesses. Der „Kanzler der Einheit“ gestaltete den Aufbau Ost als Nachbau West. Damit aber ordnete er die wirtschaftliche Erholung der neuen Länder den ökonomischen Interessen der altbundesdeutschen Wirtschaft unter. Riesige Geldtransfers konnten die notwendige Umstrukturierungs- und Aufbauleistung nicht ersetzen. Sie verwandelten den hochgradig geschwächten Kranken in einen abhängigen Dauerpatienten.

 

Die 160 Milliarden aus dem Fonds deutscher Einheit von 1991-1994 reichten nicht aus. Mit dem von 1994-2004 reichenden Solidarpakt l wurden noch einmal mehr als 200 Milliarden in die neuen Bundesländer gepumpt. Es waren Mittel, die zum erheblichen Teil in den Westen zurückwanderten, dort als Konjunkturspritze wirkten, ohne die wirtschaftliche Entwicklungslücke Ost nur im Entferntesten zu schließen. Tatsächlich aufblühende Städte und der Ausbau der Infrastruktur konnten den industriepolitischen Kahlschlag der Treuhand-Politik nicht kompensieren. Deren Privatisierungsphilosophie bewirkte nach Müller eines der größten Deindustrialisierungsprogramme der Geschichte.

 

Bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre konnten die Steigerungsraten im verarbeitenden Gewerbe Ost und die Zahl der Neugründungen kleinerer und mittlerer Unternehmen noch Hoffnung befördern. Der langfristige Einbruch des Baugewerbes und das Stottern des gesamtdeutschen Konjunkturmotors mussten die letzten Illusionen schwinden lassen. In den Augen vieler Altbundesdeutscher drohte jetzt der Osten den Westen herabzuziehen.

 

Wie reagiert die Politik? Als Wolfgang Thierse zu einer ungeschminkten Bestandsaufnahme im Jahre 2000 ansetzte, weil er den Osten auf der Kippe sah, warf ihm die eigene Partei Panikmache vor. Mit dem Solidarpakt II, der von 2005-2019 reicht und in abwärts gestaffelten Raten noch einmal 156 Milliarden Euro für den Osten vorsieht, soll das Kapitel Vereinigungslasten endgültig geschlossen werden. Manfred Stolpe, Hans Eichel und Wolfgang Clement sprechen von einer Halbzeitsituation, beschwören mit nahezu gleicher Intonation kommende Erfolge und orientieren sich auf 2020 als Jahr der gelungenen Einheit.

 

Für Uwe Müller ein mehr als gefährlicher Trugschluss. Er sieht den ostdeutschen Patienten mittlerweile so fest an die Schläuche gekettet, dass der stufenweise Abbau der Unterstützung ab 2008 einem kalten Entzug gleichkäme und zu dem mit Supergau umschriebenen Aufschaukeln ökonomischer, sozialer und politischer Konfliktpotentiale führen könnten. Ob überdramatisiert oder nicht, Müller benennt einige der entscheidenden Blockaden, die den Rückstand Ost zementieren und zukünftig weiter vergrößern dürften.

 

Nahezu alle Industrieansiedlungserfolge Ost, einschließlich der vielbeschworenen „Leuchttürme“ bewegen sich entweder unterhalb einer wirklich ökonomisch und arbeitsmarktpolitisch relevanten Größenordnung oder sie fungieren als eine Art verlängerte Werkbank. Die jeweiligen Zentralen, Forschungs- und Entwicklungsabteilungen liegen nicht in den neuen Bundesländern. Damit bleiben die erhofften Sogwirkungen und Multiplikationseffekte aus. Die Massenarbeitslosigkeit wird zum Dauerphänomen. Der Abwanderungsprozess und die damit verbundenen demographischen Folgen halten an. Zur gleichen Zeit findet ein wirklicher Aufschwung Ost in den neuen Beitrittsländern der EU statt. In diesem Wettlauf nimmt Slowenien bereits vor Ostdeutschland den ersten Platz ein.

 

Förderdschungel lichten

Bei aller Skepsis seiner Analyse will sich Uwe Müller nicht auf ein zwangsläufiges Negativ- oder gar Katastrophenszenario des Vereinigungsprozesses festlegen. Er sieht den Solidarpakt in seiner jetzigen Form gescheitert und fordert zu einer grundsätzlichen Kursänderung auf. Seine eigenen Vorschläge sind jedoch nicht wirklich überzeugend. Welche Förderinstrumente sollen nach der „großflächigen Rodung des Förderdschungels“ eingesetzt werden? Wie soll eine „Sonderwirtschaftszone Ost“ aussehen ? Wer sagt, dass die temporäre Aussetzung sozialer Schutzrechte nicht zu einer gesamtdeutschen Aushöhlung des Sozialstaates beitragen könnte?

 

So schließt Uwe Müllers Analyse recht pessimistisch. Der Patient deutsche Einheit wird das Jahr 2020 noch immer auf dem Krankenbett erleben, weil der ostdeutsche Aufholprozess nicht eine sondern, wenn überhaupt, mindestens zwei Generationen in Anspruch nimmt.

 

Uwe Müller:Supergau Deutsche Einheit

Rowohlt Berlin 2005

12,90 EUR

 

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