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Norman Davies: Aufstand der Verlorenen

Der britische Historiker Norman Davies zeichnet die Tragik und den Heldenmut des Warschauer Aufstandes nach

 

von Wolfgang Templin

aus: Der Tagesspiegel, 12.Juli 2004

 

Die Dokumentationen, Bilder und Berichte vom 60.Jahrestag des D-Day, der Landung der Alliierten in der Normandie, schürten erneut die Diskussion um das definitive Ende der Nachkriegsperiode, das Erbe des Widerstandes und die Lehren des Krieges. Mit dem tragischen und erschütternden Schicksal des Warschauer Aufstandes, dessen Beginn sich am 1.August 2004 zum sechzigsten Mal jährt, setzt sich der britische Historiker Norman Davies in einer monumentalen Arbeit auseinander. Einem Aufstand, dessen Helden und Überlebende im offiziellen Volkspolen, jahrzehntelang kriminalisiert und verleugnet wurden, den weite Teile der deutschen und internationalen Öffentlichkeit bis vor kurze Zeit mit dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 durcheinander warfen. Noch in den achtziger Jahren fanden in Westeuropa wissenschaftliche Konferenzen zur vergleichenden Geschichte des Widerstandes gegen Faschismus und Nationalsozialismus statt, die den Warschauer Aufstand ignorierten.

 

Norman Davies wurde einem breiteren Publikum in Deutschland mit seiner grundlegenden Geschichte Polens "Im Herzen Europas" und einer Geschichte Breslaus „Die Blume Europas“ bekannt. Als jungen Historiker trieb ihn sein brennendes Interesse für die Mitte und den Osten des Kontinents in den sechziger Jahren über den eisernen Vorhang nach Polen, wo er eine Reihe von Jahren studierte. Mit dem Gegenstand seiner Promotion, dem polnisch-sowjetischen Krieg von 1920, fasste er ein für die Zensur derart heißes Eisen an, dass sein Erstlingswerk „Weißer Adler –Roter Stern“ nur in Emigrationsverlagen erscheinen konnte. Heute sind seine Bücher fester Bestandteil aller polnischen Bibliotheken, Bestseller in Buchhandlungen und Teil der Unterrichtslektüre. Der gebürtige Waliser legte eine "„Geschichte der Inseln“ vor, die dem traditionell-imperialen Kanon britischer Geschichtsschreibung zu Leibe rückt; in seiner großangelegten Gesamtgeschichte Europas taucht der Osten endlich einmal nicht nur am Rande des historischen Geschehens auf.

 

Norman Davies benennt die Probleme einer Gesamtdarstellung des Warschauer Aufstandes, welche die verwickelte Vorgeschichte berücksichtigen, die politischen und militärischen Entscheidungen der beteiligten Seiten aufhellen und das Schicksal der Akteure würdigen will. Britische Geheimdienstmaterialien bleiben noch weitgehend unzugänglich, die Archive des volkspolnischen Sicherheitsdienstes werden erst erschlossen, die Suche in Moskau stößt weiterhin auf Abwehr und verschlossene Archivtüren, wenn es um die entscheidenden Monate von 1944 geht. Erinnerungen Beteiligter, Korrespondenzen und Zeitdokumente existieren in Fülle. Es gibt auch eine ganze Reihe Darstellungen des Aufstandsgeschehens, vor allem von polnischer Seite, dennoch fehlt es nach Davies an der grundlegenden Einbettung in den Gesamtprozess des 2.Weltkrieges, seine Nachgeschichte und Folgen. Um die Fülle des Stoffes zu bewältigen, lässt er einem dramatischen Prolog vier Blickachsen folgen, die an den Beginn des Aufstandes heranführen. Zustandekommen und Verfasstheit der alliierten Koalition gegen Hitlerdeutschland, die Terrorphasen der deutschen Besatzungspolitik in Polen, die Interessenlage Stalins und der Sowjetunion und die Kräfte des polnischen Widerstandes werden in Bezug zur Vorgeschichte des Aufstands gesetzt.

 

Ein linear –chronologischer Zentralteil, fängt die dramatischen 63 Tage des Aufstandes bis zur Kapitulation der letzten Verbände am 3.Oktober 1944 ein. Die Aufstandsführung selbst und militärische Experten waren von höchstens drei –fünf Tagen ausgegangen, die der mehr als ungleiche Kampf gegen die mit schweren Waffen und Flugzeugen ausgerüsteten deutschen Besatzungstruppen Warschaus anhalten konnte. Entscheidender Auslöser war die Hoffnung auf das rechtzeitige Eingreifen sowjetischer Truppen, deren Vorausverbände kurz vor Warschaus östlichem Stadtteil Praga standen und bereits erste Brückenköpfe auf dem Westufer der Weichsel errichtet hatten. Stalins politisch motivierte Entscheidung, seine kampfbereiten Armeeführer Rokossowski und Shukow zu stoppen, Aufständische und Zivilbevölkerung verbluten zu lassen, lieferte Warschau dem Untergang aus. Er wollte die Übergabe der Stadt durch eine polnische Widerstandsarmee verhindern, die der polnischen Exilregierung in London unterstand. In den ersten Tagen und Wochen des Aufstandes wüteten die SS-Brigaden Dirlewanger, Reinefarth und Kaminski mit unvorstellbarer Bestialität und verschonten weder Frauen noch Kinder. Dennoch gelang es den mit Handfeuerwaffen, Maschinengewehren und Panzerfäusten ausgerüsteten Kämpfern der Heimatarmee, große Teile der Stadt zu erobern und zu halten. Erst nach Wochen verzweifelten Kampfes fand sich die deutsche Militärführung bereit, den Kombattantenstatus der Angehörigen der Heimatarmee zu akzeptieren und sie damit nach der Kapitulation als reguläre Kriegsgefangene zu behandeln. Hitlers infernalischer Hass, ließ die Reste der polnischen Hauptstadt anschließend zur Beute seiner Sprengkommandos werden.

 

Das Versagen der britischen und amerikanischen Verbündeten angesichts der Verweigerung Stalins und seiner immer offeneren Ansprüche auf polnisches Territorium und die Gestaltung der Nachkriegsordnung, nimmt bei Davies breiten Raum ein. Er arbeitet die prorussischen Vorlieben der britischen Konservativen und die prososowjetischen Anfälligkeiten der englischen Linken genauso heraus, wie die Naivität Roosevelts, der dem polnischen Exilpremier Mikolajczyk, noch im Juni 1944 rät, auf den guten Willen und die Verständigungsbereitschaft von „Onkel Joe“ zu setzen. Mikolajczyks Moskau- Mission, die sich zeitlich mit dem Aufstandsbeginn überschneidet, endet mit einem völligen Fiasko. Nach tagelangem Warten wird er von Stalin empfangen, der die Unmöglichkeit militärischen Eingreifens erklärt, die Londoner Regierung beschimpft und unerfüllbare Forderungen stellt. Selbst westalliierten Unterstützungsflügen für die Aufständischen, wird die Durchflugs- und Landeerlaubnis verweigert. In den nächsten Wochen gibt es keinen wirklichen Druck der Briten und Amerikaner auf Stalin, auch der kämpferische Winston Churchill hält sich zurück. Die Polen, deren Tapferkeit man sonst überschwänglich lobt, gelten als konfuse Problemkinder, die Bedeutung der polnischen Frage für das Schicksal Ostmitteleuropas nach dem Kriege wird dramatisch unterschätzt. So wird die Stunde der Befreiung für einen Teil Europas zum Beginn neuer Sklaverei für einen anderen Teil.

 

Erst 1989 entsteht am Rande der Warschauer Altstadt ein Denkmal, dass dem Martyrium der Aufständischen gewidmet ist. Norman Davies zeichnet in drei abschließenden Kapiteln seiner Arbeit das Schicksal der Frauen und Männer nach, die aus deutschen Gefangenenlagern und den Verstecken des Untergrundes in die Repressionslager und Folterkeller des NKWD und seiner polnischen Helfershelfer gelangen. Sie bleiben jahrzehntelang verfemt und diskriminiert oder werden in die Emigration getrieben . Späte Rehabilitierung und Ehrung kann ihnen historische Gerechtigkeit widerfahren lassen, nicht aber Jahrzehnte des Unrechts und der Lüge ungeschehen machen.

 

Norman Davies: Aufstand der Verlorenen.

Der Kampf um Warschau.

Droemer Verlag, München 2004

 

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