Neuer Tanz in alten Mauern

Mykola Rjabtschuk: Die reale und die imaginierte Ukraine

von Wolfgang Templin

aus: Rheinischer Merkur, 01. Juli 2006

 

Wo liegt eigentlich die Ukraine und wie kann man sie sich vorstellen? Wer wichtige Ausschnitte und Eigenheiten dieses Landes aufnehmen will, sollte eine lange Zugfahrt unternehmen. Sie könnte ihn vom habsburgisch-galizisch geprägten Lemberg im äußersten Westen des Landes nach Donezk im tiefen Osten der Ukraine führen. Länger als vierundzwanzig Stunden, ein Wechsel von Sprachen, Kulturen, Perspektiven, wie er intensiver und drastischer kaum sein könnte. Vor dieser Reise sollte er zu einem Bändchen der Edition Suhrkamp greifen, in dem der ukrainische Literaturkritiker, Übersetzer und Essayist Mikola Rjabtschuk, die reale und die imaginierte Ukraine vorstellt. Rjabtschuk, in Deutschland immer noch weniger bekannt als seine Schriftstellerkollegen Juri Andruchowitsch und Andrej Kurkow, zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Intellektuellen. Dem alternativen, literarischen Milieu Lembergs der spätsowjetischen siebziger Jahre entstammend, absolviert er in der Perestroikazeit das renommierte Moskauer Gorki-Literaturinstitut. Bereits damals, förderte er neue ukrainische Talente, „entdeckte“ Andruchowitsch und wurde in Kiew zum Mitbegründer der Zeitschrift Krytyka. In den Spalten dieser im Lettre-Format gehaltenen und am Vorbild der New York Review of Books orientierten Zeitschrift, spielen sich bis heute die spannendsten innerukrainischen und internationalen Debatten über den Weg der Ukraine nach Europa, den Reformweg des Landes, über literarische und künstlerische Neuerscheinungen ab.

 

In den vorangegangenen Jahren beschrieb Rjabtschuk als politischer Essayist die historischen, kulturellen und mentalen Bruchlinien und Klüfte, welche die Ukraine ausmachen. Zugespitzt und zuweilen auch provokant formulierend, setzte er sich häufig dem Vorwurf aus, die westukrainisch-galizische Brille aufzuhaben und mit dem Bild „zweier Ukrainen“ eine Unvereinbarkeit heraufzubeschwören. Die Abwehr dieses Vorwurfes zieht sich wie ein roter Faden durch Rjabtschuks neuesten Essay, der die Erfahrungen der Majdan- Revolution und der Monate danach aufnimmt.

 

In einem Einleitungsteil, das „Projekt Ukraine“ arbeitet er die Begrenztheit der Metapher von den zwei Ukrainen heraus, die bei falschem Gebrauch platt und gefährlich sein kann. So unbestreitbar die große Differenz , die kulturellen und sozialen Gegensätze zwischen dem „tiefen Westen“ und dem „tiefen Osten“ der Ukraine sind, so wenig geht es hier um eine unaufhebbare Kluft. Rjabtschuk spricht von der Realität einer Teilung, die keine Spaltung bedeuten muss und macht den eigentlichen Riss, der sich durch die Ukraine zieht am Verhältnis zweier Projekte aus. Es gibt das Projekt einer sprachlich, kulturell und politisch eigenständigen aber eben nicht homogenen, Ukraine. Einer Ukraine, die sich auf Grund ihrer Geschichte und Traditionen als Teil der europäischen Gemeinschaft versteht, Vollmitgliedschaft in der EU anstrebt und zu all ihren unmittelbaren Nachbarn, Russland eingeschlossen, gleichberechtigt partnerschaftliche Beziehungen anstrebt.

 

Und es gibt die Vorstellung von der Ukraine als Teil einer ostslawischen Kollektividentität, eines besonderen vom lateinischen Europa abgesetzten Entwicklungsweges. In diesem Projekt nehmen das russische Moment, der russische Vektor, ausgesprochen oder unausgesprochen, einen Zentralplatz ein. Die Ukraine wird zum postsowjetischen Zwitter, der sich in seiner Zwitterhaftigkeit auf Dauer stellt. Irgendwann taucht bei diesem Projekt dann auch das Zauberwort Eurasien auf.

 

Ist das erste Projekt stärker im Westen der Ukraine verankert und hier bereits zum Kern moderner ukrainischer Nationenbildung geworden und das zweite Projekt tendenziell stärker im Osten vertreten, gibt es hier dennoch keine fixe Determination. Im Osten finden sich russischsprachige ukrainische Patrioten, so wie es im Westen russlandfixierte, putinophile Kräfte gibt.

 

Die Grenze zwischen diesen Projekten ist nur bedingt eine räumliche und schon gar keine ethnisch, sprachlich festzumachende. Zahlreiche russischsprachige und ethnisch russische Ostukrainer votierten für Juschtschenko, gebildete und hochqualifizierte Westukrainer sahen in Janukowitsch ihren Interessenvertreter. Rjabtschuk illustriert mit historischen Exkursen, Alltagsschilderungen, bis hin zu Witzen, wie sehr der Riss durch die alte und neue politische Klasse, die Eliten und den einzelnen Ukrainer selbst geht. Vor allem macht der Autor deutlich, wie schwer es ist, eine räumliche Grenze der verschiedenen ukrainischen Prägungen, zu bestimmen. Samuel Huntington, mit dessen Kulturkampfthesen sich Rjabtschuk polemisch auseinandersetzt, macht auf dem Territorium der Ukraine, die Grenze zum asiatisch geprägten Teil des Landes am Fluß Sbrutsch aus, der alten Grenze des um Ostgalizien ausgedehnten Zwischenkriegspolens. Damit würde die gesamte Mittelukraine aus der europäischen Prägung herausfallen, was historisch und kulturell keinen Sinn ergibt. Auch der Dnepr (Dnipro) als Kulturgrenze und zugleich Außengrenze der alten polnisch-litauischen Rzeczpospolita, taugt nicht dazu. Dann würden die mittelostukrainischen Gebiete des Hetmanats, würde ein Zentrum ukrainischer Identitätsbildung, wie Charkiv, im Jenseits liegen. Die Universitätsstadt Charkiv war nicht ohne Grund, das nach Kiew zweitbedeutendste Zentrum der orangen Revolution. Zu Füßen eines riesigen Lenindenkmals standen sich hier im November und Dezember 2004, die gelben und die blauen Demonstranten Wochen lang gegenüber. Die Vorstellung vom monolithischen und durchweg russifizierten Osten der Ukraine hält keinem genaueren Blick stand.

 

Mit dem Material seiner historischen-kulturellen Exkurse und Schilderungen im Hintergrund nimmt Rjabtschulk den Leser anschließend auf eine Reise in die letzten anderthalb Jahrzehnte, einer souveränen aber alles andere als freien und demokratischen Ukraine, mit. Die Schwäche und Zerstrittenheit einer vom spätsowjetischen Zerfall geprägten demokratischen Opposition wird ebenso eindrücklich beschrieben, wie der Charakter und die Wendefähigkeit zahlreicher Nomenklaturkader. „Autoritarismus mit menschlichem Antlitz“ nennt Rjabtschuk die Zwischenphase in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre. Eine Zwischen phase, die sich unter Leonid II Kutschma in eine Oligarchenherrschaft mit immer unmenschlicherem Antlitz verwandelte. Erst die Bewegung „Ukraine ohne Kutschma“ legte nach der Jahrtausendwende, die „Agonie des Erpresserstaates“ offen und bereitete die friedliche Revolution von 2004 vor.

 

Rjabtschuk sieht keinen Grund, die neueste Entwicklung der Ukraine in rosigen Farben zu beschreiben und benennt dennoch zahlreiche Gründe, die ihn optimistisch sein lassen. Selbst wenn Teile der politischen Eliten und der Geschäftswelt alle Mühe haben, sich aus der Zwangsjacke postsowjetischer Verhältnisse zu winden, sie sind mit einer Gesellschaft konfrontiert, die in großen Teilen ungleich souveräner und mutiger auftritt als Jahre zuvor. Gute Chancen für das Projekt einer europäischen Ukraine.

 

 

Mykola Rjabtschuk:

Die reale und die imaginierte Ukraine

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2006

175 Seiten, 9,00 EUR

 

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