Das Laboratorium der Völkerfreunde

aus: die tageszeitung, 14.01.2003

von Wolfgang Templin 

 

Im russischen Riesenreich bestimmt bis heute der Konflikt zwischen den Provinzen und der Zentrale die Politik. Putin löst dieses Problem mit Diplomatie - und Gewalt. Die Grenzen dieses Konzepts zeigt Michael Thumann auf

 

Wann nimmt die deutsche Öffentlichkeit die Situation und die Entwicklung in Russland aufmerksam zur Kenntnis? Positiv dann, wenn wieder einmal der amerikanische Präsident die Einheit im Kampf gegen den Terror beschwört und dazu seinen russischen Partner fest in den Arm nimmt. Wenn zum christlichen oder orthodoxen Weihnachten Bilder der Männerfreundschaft zwischen Gerhard Schröder, Wladimir Putin und ihren Frauen die Herzen erwärmen.

Negativ dann, wenn die Aktion eines tschetschenischen Todeskommandos im Herzen Moskaus oder der Hauptstadt Tschetscheniens Grosny in Erinnerung ruft, dass dort seit Jahren ein mörderischer Krieg tobt. Ein Krieg dessen Opfer vor allem die Zivilbevölkerung ist, Tschetschenen wie Russen. Jenseits solcher Nachrichten und Eindrücke ist Ruhe. Ruhe und Unsicherheit. Das Gros der akademischen Russlandspezialisten und deutschen Außenpolitiker zögert bei deutlichen Einschätzungen, greift die russische Propagandaformel von der gelenkten Demokratie auf und bescheinigt Putin Realitätssinn und Berechenbarkeit.

Hier geht die Monographie von Michael Thumann, der von 1997- 2001 das Moskauer Korrespondentenbüro der Zeit leitete, deutlich weiter. Der Autor rückt das Ringen um den föderativen oder zentralistischen Charakter des Russischen Riesenreiches, den Kampf der Moskauer Zentrale mit den Provinzen und deren Widerstand, in den Mittelpunkt seiner Arbeit.

 

Der mit autokratischen Machtvollkommenheiten versehene russische Staatspräsident Putin, erscheint bei Thumann nicht einfach als effizienter Modernisierer, der den Augiasstall Jelzinscher Korruption und Jelzinschen Chaos erfolgreich ausmistet. Er wird als machtbewusster Stratege vorgestellt, welcher mittels populistischer Parolen von der „Sammlung der heiligen russischen Erde“, erneut Russlands Stellung als Weltmacht beschwört. Das Porträt Peters des Großen über seinem Schreibtisch ist mehr als nur ein äußerliches Symbol. Wie sein großes Vorbild, verbindet Putin den Modernisierungsanspruch und die erklärte Öffnung nach Europa, mit der eisernen Faust nach innen.

Der genauere Blick auf Putin, führt für Michael Thumann keineswegs zu einer Idealisierung der Ära Jelzin. Dessen zunehmende Schwäche und Zerrissenheit, seine mehr als fragwürdige Rolle beim Ausbruch des ersten Tschetschenienkrieges 1994, das Taumeln zwischen den Interessen des Familienclans, den diversen Beratern und Einflussgruppen wird nicht ausgespart.Dennoch zeichnete sich für das scheinbar auseinanderfallende Reich in dieser Zeit eine Balance des Kompromisses ab, welcher den Eigeninteressen der Provinzen zunehmend gerecht wurde. Russland begann sich als fragilen Vielvölkerstaat zu begreifen und begann die Identität seiner Bevölkerung nicht mehr an die klassischen Attribute russisch-zentralistischer Tradition zu binden. In dezentralen Provisorien konnte man Momente eines produktiven Übergangs erkennen, Provinzgouverneure wurden aus Statthaltern Moskaus zu Pionieren regionalen Eigensinns. Nicht alle von Ihnen endeten im Sumpf von Bereicherung und Korruption.

Um die Dimensionen dieses Konflikts, mit dem sich Putin bei seinem Amtsantritt konfrontiert sah, besser herauszuarbeiten, widmet Thumann dem Kampf zentralistischer und föderativer Tendenzen in der russischen Geschichte und der Sowjetunion als „Laboratorium der Völkerfreundschaft“ jeweils eigene Kapitel. Er entgeht so auch der Gefahr, sowjetische und postsowjetische Geschichte auf Konfliktmuster zwischen Personen; Lenin versus Stalin, oder die Abfolgedynamik von Gorbatschow – Jelzin – Putin, zu reduzieren. Der rote Faden seines historischen Durchganges sind die gleichen Fragen, die russische Reformdenker lange vor der Februar- und Oktoberrevolution ebenso stellten:

lässt sich Russland mit seiner gewaltigen Landmasse und der multiethnischen Vielfalt seiner Bewohner, anders als mit autokratischen Mitteln nach innen und mit imperialem Anspruch nach außen, legitimieren und zusammenhalten? Kann Russland auf eigener Grundlage die Merkmale und Qualitäten eines Rechtsstaates und einer Demokratie entwickeln, ein Nationenverständnis freisetzen, dass Gleichberechtigung und Kooperation an die Stelle von Über- und Unterordnung setzt? Fragen, die auch für das Schicksal und die Existenz von Russlands Nachbarstaaten von entscheidender Bedeutung waren und sind.

 

In der Darstellung aktueller Entwicklungen greift Thumann vier Provinzen Russlands heraus, die auf unterschiedliche Weise Ablösungstendenzen, nationalen „Eigensinn“, die Probleme Moskaus in Sibirien und Asien aufzeigen. Mit dem Nordkaukasus und dem Konfliktherd Tschetschenien, mit Tatarstan, Jakutien und Burjatien stellt er im historischen Aufriss und in reportagehaften Momentaufnahmen ein vielfältiges Kräftemessen vor. Unter Berufung auf die eigene Sprache, Religion und kulturelle Tradition wird der Kampf um Autonomie, bessere Bedingungen gegenüber der Zentrale und das Recht auf Separation geführt. Moskaus Antwort unter Putin ist der Versuch, die locker gewordene Leine wieder fester anzuziehen. Entmachtung der Provinzgouverneure und der regionalen Einflussgruppen, Assimilationsbestrebungen und der Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche, ökonomischer und militärischer Druck – das Methodenarsenal der Rezentralisierungsstrategie ist breit gefächert.

 

Zugleich zeigen sich – wie immer in der russischen Geschichte – die Grenzen des Zentralismus. Der Weggang der russischen Bevölkerung aus weiten Teilen Sibiriens hängt mit der ökonomischen Entwicklung zusammen. Das einmal gewachsene Netz neuer Provinzbeziehungen, lässt sich nicht vollständig zerschlagen. Die Bemühungen um die Wiedereinführung des kyrillischen Alphabets in Tatarstan sind zum Scheitern verurteilt. Der Krieg in Tschetschenien lässt sich mit militärischen Mitteln nicht gewinnen.

Es macht einen weiteren Vorzug von Michael Thumanns Herangehensweise aus, dass er bei aller Skepsis gegenüber dem Putinschen Erfolgsmodell, die Frage nach dem Schicksal seiner Politik nicht endgültig zu beantworten sucht. Die Deutlichkeit des Blickes und des Fragens kann allen an diesen Themen Interessierten weiterhelfen.

 

 

Michael Thumann: Das Lied von der russischen Erde.

Moskaus Ringen um Einheit und Größe

Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart München 2002

 

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