Gesellschaftskrise und Systemzerfall - Die späte DDR und das Revolutionsjahr 1989

von Wolfgang Templin

aus: Deutschland Archiv 2/2009, S. 335-337


Das Jubiläumsjahr 2009 hat es in sich. In einer Flut von Seminaren, Veranstaltungen und Ausstellungen wird an Ereignisse des Revolutionsjahres 1989 erinnert, werden Ausschnitte des Prozesses beschrieben, der zum Vereinigungsdatum des 3. Oktober 1990 hinführte. Seltener sind die Versuche einer Gesamtdarstellung des historischen Jahres, seiner Voraussetzungen, Dynamik und Folgen. Die Monografie»Endspiel« des Berliner Zeithistorikers Ilko-Sascha Kowalczuk stellt sich dieser Aufgabe in imponierender Weise.

 

Der Autor setzt an dem Paradoxon an, dass der DDR bis weit in das Jahr 1989 hinein weitgehende Stabilität und Ruhe zugeschrieben wurden. Binnen weniger Wochen setzte dann ein rapider Staats- und Systemzerfall ein; das Ende des »Arbeiter- und Bauern-Staates« auf deutschem Boden war nur noch eine Frage von Monaten. Kowalczuk macht sich an die Auflösung dieses Rätsels und bringt dafür die denkbar besten Voraussetzungen mit. In der DDR aufgewachsen und mit vielen Akteuren des damaligen Geschehens in engem Kontakt, stützt er sich in seinem Panorama der späten DDR und ihres Endes auf Materialien des Bundesarchivs, der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Archive der DDR- Opposition und verarbeitet die zahlreiche Literatur zum Thema. Der Projektleiter in der Abteilung Bildung und Forschung der Bundesbeauftragten ist mit zahlreichen Arbeiten zu Widerstand und Opposition, sowie Untersuchungen zu anderen Schwerpunkten der DDR-Geschichte hervorgetreten.

 

Im Unterschied zur »harten Diktatur« der Zeit unter Walter Ulbricht wird der Honecker-Ära von zahl reichen Historikern ein eher harmloser Charakter attestiert. Mit Begriffen wie »Nischengesellschaft«, »Fürsorgediktatur«, »Konsensdiktatur« und »kalkulierter Emanzipation« entsteht das relativ entspannte Bild eines Pantoffelstaates. Wohlmeinende westliche Beobachter lancieren sogar die Formel einer »partizipatorischen Diktatur«. Derlei Verzeichnungen führt Kowalczuk nicht dadurch ad absurdum, dass er in einem fort Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl

beschwört. Er zeichnet im ersten Teil seines Buches auf 300 Seiten ein dichtes Bild der DDR-Gesellschaft in den Achtzigerjahren und diagnostiziert sie als unheilbar krank. Die vielbeschworenen »sozialen Errungenschaften« werden als politisch motiviertes, schlecht funktionierendes Zuteilungswesen beschrieben, deren Kosten das ohnehin ineffiziente System der Kommandowirtschaft in die Knie gehen ließ. Der Versuch, das Wohnungsproblem in Ostberlin zu lösen, geriet zum Nachteil anderer Regionen. Raubbau an der ökologischen und ökonomischen Substanz war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Zahlreiche Beispiele und Belege für eine immer schärfere Gesellschaftskrise kulminieren bei Kowalczuk in einer Anatomie des hochgradig militarisierten Macht- und Herrschaftsapparates. Bei dessen Vorstellung setzt er sich mit bisherigen Fehleinschätzungen auseinander und kommt zu einer Reihe unangenehmer Wahrheiten.

 

Nicht das Ministerium für Staatssicherheit breitete sich wie ein Krake über das ganze Land aus, sondern sein Auftraggeber, die SED. Die Herrschaftspartei zählte zum Schluss knapp 2,5 Millionen Mitglieder, das bedeutete: Jeder fünfte Erwachsene war dort präsent. Rund 500.000 Mitglieder gab es in den angelagerten Blockparteien, dazu Pioniere, Freie Deutsche Jugend und Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, Deutsch-Sowjetische Freundschaft – der Organisationswahn kannte keine Grenzen. Solch massenhafte Mitgliedschaft schuf Loyalität, bedeutete individuelle Unterstützung und lässt Kowalczuk zu dem Schluss kommen, dass sich im Rückblick die Kollaborationsquote unter der DDR-Bevölkerung als weitaus höher darstellt, als sie vielen Beteiligten erschien.

 

Herrschaftszugriff und Bindungskräfte konnten den inneren Zerfall der DDR dennoch nicht stoppen. Bei den äußeren Bedingungen, die diesen Prozess in den Achtzigerjahren begleiteten und beeinflussten, spielten die Reformansätze Michail Gorbatschows eine zentrale Rolle. Er wird in Kowalczuks Buch zum Systemveränderer wider Willen, der die Erneuerung des Kommunismus anstrebte und dessen Untergang als unfreiwilliger Totengräber Pate stand.

 

Das Gesellschaftsbild des ersten Teiles setzt den Leser in den Stand, über die Dynamik der Krise und des Zerfalls hinaus die Kräfte der Gegenwehr und des Widerstandes zu identifizieren, welche das Jahr 1989 prägen sollten. Am Schnittpunkt von Gesellschafts- und Systemkrise stellt Kowalczuk entscheidende Pole einer Gegenbewegung vor. Im Kapitel »Der Westen im Osten« wird die Anziehungskraft der Bundesrepublik als Auslöser und Antrieb für eine millionenfache Fluchtbewegung gesehen, die selbst durch den Bau der Mauer nur zeitweise gestoppt werden konnte. Kowalczuk verweigert sich einer häufig geübten Aufteilung in Wirtschaftsflüchtlinge und politische Flüchtlinge. Für ihn ist der angestrebte Freiheitsgewinn entscheidend, den jeder, der die DDR verließ, auf seine Weise zu realisieren suchte. In der Endphase der DDR wurden die zum Verlassen ihres ungeliebten Staates entschlossenen Menschen zum entscheidenden Teil des subversiven Potentials, welches das System zum Einstürzen brachte. Die Rufe eines Teils der Demonstranten: »Wir wollen raus«, und die eines anderen: »Wir bleiben hier«, verbanden sich miteinander.

 

Ein weiteres Kapitel ist der Rolle der Kirche in der DDR gewidmet. Sie bot Schutzraum für unabhängiges Denken, konnte aber auch zum systemstützenden Integrationsfaktor werden. Kowalczuk plädiert dafür, hier nach Zeitphasen, Regionen und beteiligten Personen zu differenzieren, weder einseitig den Stab zu brechen noch die Kirche zu glorifizieren.

 

Wenn es um die unmittelbaren Höhepunkte des Revolutionsjahres geht, die sich für den Autor in die erste Phase bis zum 9. Oktober (Leipzig) und die folgende Zeit bis zur Volkskammerwahl am 18.

März 1990 gliedern, spielen organisierte Opposition und die aus ihr hervorwachsende Bürgerbewegung eine zentrale Rolle. In das Bild der späten DDR sind die rebellischen Potentiale der Alternativkultur und zahllose Formen individuellen Protestverhaltens eingewoben.

Stärken und Schwächen einer Opposition, die lange Zeit isoliert war, ihre internen Konflikte und Polarisierungsprozesse, das Überrolltwerden vom immer schnelleren Tempo des Geschehens nach dem Mauerfall werden im letzten Teil des Buches beleuchtet. In der viel beklagten Heterogenität des Oppositionsspektrums erblickt Kowalczuk die Chance, Impulsgeber für die sich formierenden politischen Kräfte zu sein. Erst die Herausforderung durch die Oppositionellen, vor allem aber die Kraft der Straße, das lawinenartige Anwachsen der Demonstrationen in allen Regionen während der Oktobertage, zwang die Träger des maroden Systems in die Knie. Von selbst ergaben sie sich nicht. Kowalczuk hält mit zahlreichen Argumenten am Revolutionsbegriff fest. Für ihn ist die Zeit der Revolution jedoch mit den freien Wahlen und ihrem Ergebnis abgeschlossen. Was danach kommt, ist ein anderes Kapitel von Realpolitik.

 

Der gründliche Einstieg machen es dem Autor möglich, die Höhepunkte der Proteste und Demonstrationen bis zum Fall der Mauer und darüber hinaus als Ereigniskette vorzustellen. Die letzten Abwehrkämpfe und Verwandlungsmanöver der alten SED und ihrer gewendeten Führung, Vorbereitungen und Verlauf des Runden Tisches, Blockaden und Besetzung der Stasi-Zentralen und der Charakter des Wahlkampfes werden in dem gedrängten atemlosen Rhythmus vorgestellt, der ihnen innewohnte, und bleiben trotzdem verständlich.

 

Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München: Beck 2009, 602 S.,

€ 24,90

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