Fixierung auf den russischen Bären

Gerd Koenen: Der Russland-Komplex

von Wolfgang Templin

aus: Frankfurter Rundschau, 01.Februar 2006

 

Gerd Koenen versucht die Versessenheit zu erklären, mit der Deutschland seit den zwanziger Jahren nach Moskau geblickt hat

 

Stereotypen haben eine hohe Überlebenskraft, vor allem in den Beziehungen verschiedener Völker und Nationen zueinander. Der Historiker Gerd Koenen betritt ein ausgedehntes und schwieriges Feld, wenn er sich den deutschen Russland-Fixierungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts widmet.

 

Landläufige Vorstellungen lassen den deutschen Russlandbezug dieser Zeit häufig auf eine rassistisch aufgeladene Ablehnung, eine durchgehaltenen Russenfeindschaft zusammenschrumpfen, .Gerd Koenen zeichnet ein weitaus komplexeres Bild. Er zeigt die Ambivalenz deutscher Russlandbilder und – Bezüge auf, ihre Ausformung vor dem 1. Weltkrieg, in der Zwischenkriegsphase totalitärer Polarisierungen, im gegen den Osten gerichteten deutschen Vernichtungs- und Ausrottungskrieg ab 1939.

 

Mit einer Fülle von politischen, literarischen und biographischen Zeugnissen der Zeit macht er die Vielgestaltigkeit der Bezüge sichtbar . Um die Jahrhundertwende gibt es die Russlandbegeisterung einer ganzen deutschen Schriftstellergeneration , prototypisch in Rainer Maria Rilkes Diktum der russischen „Nähe zu Gott“ und der hymnischen Verklärung der slawisch-russischen Seele in Thomas Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Ein „weitläufiges Changieren zwischen Angst und Bewunderung“ prägt nach Koenen das Russlandbild im deutschen Wilhelminismus.

 

Mit dem Ende des 1.Weltkrieges kommt es zu einer Konstellation, die das Deutschland der Weimarer Republik und die Sowjetunion unter Lenin und Stalin, trotz ihrer ideologischen Gegnerschaft in der gemeinsamen Verlierer- und Außenseiterrolle sieht Militärische Zusammenarbeit, diplomatische Überraschungscoups und politische Geheimverträge markieren Momente einer teils klandestinen, teils offenen Kooperation

 

Deutsche Vordenker der Konservativen Revolution, wie Moeller van den Bruck, sehen im bolschewistischen Ordnungsexperiment das Gegengift zur Kontamination mit den liberalen Werten des Westens. Für den Geschichtsphilosophen Oswald Spengler ist Deutschland seinem Wesen nach illiberal und antidemokratisch. Bei der Überwindung des englischen Liberalismus und der französischen Demokratie braucht es den Schulterschluss mit Russland.

 

Der Hass auf die Weimarer Ordnung vereint die späteren Nationalsozialisten und die Anhänger der Komintern und schafft partnerschaftlich-konkurrierende Russlandfixierungen.

 

Eine weitere negative Fixierung gesellte sich dort hinzu: Polen, das als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg von den Siegermächten wiedergeschaffen wird, wird als Angelpunkt des Versailler Systems gesehen. Als ein „Saisonstaat“, der zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu tilgen ist. Die offizielle „friedliche Revisionspolitik“ der wechselnden Weimarer Regierungskoalitionen wird von einer Revanchestimmung und Rückeroberungsmentalität begleitet, die weite Teile des Bürgertums und selbst der Linken einschließt.

 

Gerd Koenen arbeitet die Schlüsselbedeutung der Polenfrage für den deutschen Ostbezug punktuell heraus, ist aber primär auf die russische Seite dieses Verhältnisses bezogen. Die spätere nationalsozialistische Verklammerung von Russlandpolitik und Polenpolitik bis zum Ribbentropp-Molotow Pakt von 1939 bleibt so im Hintergrund.

 

Den politischen Schachzügen und militärischen Abenteuern korrespondiert in den zwanziger Jahren eine Ebene künstlerisch-intellektueller Verherrlichung des sowjetischen Gesellschaftsexperiments. In Zeiten entsetzlichster Hungerkatastrophen, eines bereits voll entwickelten politischen Terrors, lassen sich Delegationen und prominente Einzelreisende von der Scheinwelt des neuen Menschen einfangen, feiern den Blutsäufer Felix Dscherschinski als Franziskus von Assisi und sinken als Pazifisten vor einer staatlich organisierten Gewaltmaschinerie verzückt in die Knie. Stalin wird zur Rettergestalt einer Epoche, ältere russische und neuere sowjetische Literatur ziehen in der Publikumsgunst gleichauf.

 

Selbst die immer größere Zahl der neuen sowjetischen Emigranten kann das illusorische Hoffnungsbild nicht erschüttern. Viel stärker als die europäische Hauptstadt der russisch-sowjetischen Emigranten ist Berlin die Nebenhauptstadt der Komintern und zugleich Clearingstelle aller legalen und konspirativen Auslandsverbindungen der KPDSU.

 

Auf breitem Raum zeichnet Koenen die verschiedenen Phasen und Schwerpunkte der nationalsozialistischen Ostorientierung, den darauf bezogenen Konkurrenzen und Konflikte zwischen Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg nach.

 

Der Autor kann damit die These Ernst Noltes vom kausalen Nexus zwischen Stalins Terrorsystem und der späteren hitlerdeutschen Terrorordnung zurückweisen. Es gab keine Bolschewistenfurcht oder eine dominant antibolschewistische Grundhaltung der Nazis von Anbeginn an. Dem primären Judenhass Hitlers und entscheidender Teile seiner Bewegung entsprach zunächst ein ambivalentes Verhältnis zu Sowjetrussland. Antibolschewismus wurde zur politischen Spielmasse und in Phasen der Verbrüderung mit Stalin pragmatisch zurückgenommen. Die faktische zeitliche Abfolge und die wechselseitige Beeinflussung von Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus lassen sich nicht als Kausalnexus bestimmen.

 

Die Entwicklung von „Hitlers Russland“ wird von Koenen als sukzessive Entfaltung der Lebensraumtheorie gezeichnet, als Zurückdrängung kooperativer Phantasien und Durchsetzung eliminatorischer Tendenzen. Träume einer germanisch-slawischen Symbiose, die sich als Bollwerk gegen die westlich-romanische Verseuchung aufbaut, machen immer kruderen Rassenideologien Platz. In ihnen ist für alle slawischen Völker nur noch der Sklavenstatus, die spätere Assimilierung oder Auslöschung vorgesehen. So setzt der östliche Vernichtungs- und Ausrottungskrieg auch nicht erst im Juni 1941, sondern bereits im September 1939 ein.

 

Gerd Koenens Rekonstruktion der deutschen Russland-Bezüge endet mit der Niederschlagung Hitlerdeutschlands und gibt der Nachkriegsentwicklung nur noch kursorischen Raum. Hier würde man sich einen Folgeband wünschen, der die abschließende Einschätzung des Autors, nach 1989 seien die Deutschen und die Russen im Verhältnis zueinander in eine „historische Normallage zurückgekehrt“ und müssten sich jetzt mit „nüchternen Augen anschauen“ relativieren würde. Gorbatschow-Kult, der Rummel um Boris Jelzin und die Verklärung des autokratischen Systems unter Wladimir Putin, sprechen hier eine andere Sprache. Ihnen entspricht eine politische Russlandfixierung, die auf Kosten der anderen östlichen Nachbarn Deutschlands geht.

 

Wolfgang Templin

 

Gerd Koenen: Der Russland-Komplex.

Die Deutschen und der Osten 1900 -1945

C.H. Beck Verlag, München 2005

29,90 €

 

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