Die Kehrseite der großen Utopie: Karl Schlögel und Orlando Figes sezieren den stalinistischen Terrors
von Wolfgang Templin
aus: Kommune, 6/08
Wenn die zahlreichen Gedenkveranstaltungen zum Revolutionsjahr 1989, zum siebzigsten Jahrestag des Ausbruchs des zweiten Weltkriegs und die Feierstunden zu zwanzig Jahren Deutscher Einheit vorübergezogen sind , stehen bereits die nächsten historischen Jubiläen ins Haus. Im Herbst 2011 liegt die Auflösung der Sowjetunion zwanzig Jahre zurück. Sechs Jahre später ist ihr Anfang ,der hundertste Jahrestag des bolschewistischen Oktoberputsches zu begehen. Für die internationale kommunistische Glaubensgemeinschaft verklärten sich die Schüsse des Panzerkreuzers Aurora, der Sturm auf das Winterpalais und die nachfolgende Machtübernahme der Bolschewiki zur großen sozialistischen Oktoberrevolution, zur historischen Zeitenwende schlechthin und schufen Legenden über Legenden. Zahlreiche andere Zeitgenossen erblickten darin umgekehrt den Beginn einer beispiellosen Kette des Terrors und der organisierten Massenmorde. Den Jahren des Bürgerkriegs und der kurzen Pause der "Neuen Ökonomischen Politik" folgten nach Lenins Tod, die Intensivierung des Kampfes gegen die Schädlinge und Abweichler in den eigenen Reihen. Was Lenin mit der Begründung des Terrorapparates der Tscheka im Revolutionsjahr 1917 begann, setzte Josef Stalin, der sich im Kampf um die Nachfolge behauptete, bis zur Perfektion fort. Den Exzessen der forcierten Industrialisierung und Kollektivierung auf dem Land, folgte die Ausrottung der vor allem ukrainischen Klein- und Mittelbauern durch Aushungern in den frühen dreißiger Jahren. Die Beseitigung der alten bolschewistischen Eliten als Parteifeinde, die Dezimierung der wissenschaftlichen und technischen Eliten, die Enthauptung des Offizierskorps waren die nächsten Etappen und Steigerungsstufen in der Entfesselung des Terrors. All dem setzte das Schreckensjahr 1937/38 die Krone auf. Binnen weniger Monate wurden mehr als zwei Millionen Menschen verhaftet, mehr als 700 000 davon ermordet, mehr als 1,3 Millionen in Lager und Arbeitskolonien verschleppt. "Schnellgerichte", die mit den Vorstellungen von zivilisierter Justiz nicht das Mindeste zu tun hatten, tagten rund um die Uhr und erledigten im Laufe einer Sitzung meist mehrere hundert Fälle.
Überlebende Zeitgenossen und Historiker versuchten den Ursachen und der Dimension des Dauerterrors nachzugehen und konnten lange Zeit immer nur an Zipfeln des Geheimnisses ziehen. Nach der Geheimrede Nikita Chruschtschows vom Februar 1956, der nur einen Bruchteil der Geheimnisse Stalins preisgab, mussten noch Jahrzehnte vergehen, bis mit der teilweisen Öffnung der Akten in den Neunziger Jahren das ganze Ausmaß des Grauens deutlich wurde. Es gibt zahllose Versuche den Terror mit den pathologischen Charakterzügen und dem Sicherheitswahn Stalins in Verbindung zu bringen, das Einkreisungssyndrom der Sowjetunion und die Militanz der kommunistischen Ideologie als Erklärung heranzuziehen, die Ursachen dafür in den Tiefen der russischen Geschichte auszuloten. Andere Autoren sprechen von den Folgekosten eines gigantischen Modernisierungsexperimentes, der wirtschaftlichen Funktion der Straflager und wollen die Funktion des Terrors damit rationalisieren.
In zwei neuen Büchern gehen jetzt der deutsche Osteuropahistoriker Karl Schlögel und sein Londoner Kollege Orlando Figes einen anderen Weg. Sie liefern beide keinen neuen theoretischen Erklärungsansatz für die Ursachen des Terrors, sondern dringen auf verschiedene Weise in die Zellen einer Gesellschaft ein, die von seinen Wirkungen im Innersten geprägt wird . Gestützt auf mittlerweile gesicherte Zahlen zum Umfang der Säuberungen und auf neue Erkenntnisse zur Vorgehensweise der Täter, die häufig genug die nächsten Opfer wurden, entwerfen sie beklemmende Bilder eines pathologischen Dauerzustandes.
Karl Schlögel, der dem deutschen Publikum vor allem durch glänzend geschriebene Analysen und Essays zur Wiederentstehung des Geistes der Städte und ihre Modernität im Osten Europas vertraut wurde, die er als komplexe historische Ortsvermessungen betreibt, bleibt sich auch im neuesten Werk treu. Er stellt sich dem Moskau des Jahres 1937 als Einheit von "Traum und Terror, als Gleichzeitigkeit forcierter Aufbauanstrengungen, ungeheuerer Vitalität und paralysierender Wirkung des Terrors. Knapp vierzig Kapitel, die Stationen ,Ausschnitte und Orte Moskauer Lebens in dieser Zeit erschließen, fangen ein ganzes Panorama der "Koexistenz und Kopräsenz des Disparaten" ein. In das Jahr der Schauprozesse, Massenerschießungen und -deportationen fällt eine ungebrochene Modernebegeisterung, die Begehung des Puschkinjubiläums, ein Massenansturm auf die Moskauer Vergnügungsparks, Paraden der Sportler, die Einweihung von Hochhäusern des sowjetischen Art Deco. All dies stellt Schlögel vor, ohne dabei der Faszination des Kulturhistorikers zu erliegen. Er setzt die Terrorzentrale der Lubjanka dagegen, die Gefängnisse von Lefortowo und Butyrka und den Schießplatz Butowo, an dem die Opfer auch gleich verscharrt wurden. Gäste Moskaus kommen zu Wort, die vergeblich versuchen sich einen Reim auf das Ungeheuerliche der Ereignisse zu machen, so der Emigrationsschriftsteller und Regierungsgast Lion Feuchtwanger und zahlreiche politische Emigranten, die zum großen Teil selbst in den Mahlstrom des Terrors geraten.
In anderen Kapiteln will Schlögel an die unbekannten Opfer des zweiten großen Zivilisationsbruches im 20.Jahrhundert erinnern und wenigstens einige von ihnen der Anonymität entreißen. Der Terror richtete sich in erster Linie nicht gegen die alten Genossen, sondern gegen einfache, nicht der Partei zugehörige Menschen, die nach sozialen und ethnischen Kriterien ausgesondert und planmäßig getötet wurden.
Orlando Figes, der mit seiner Darstellung der Epoche der Russischen Revolution von 1891 bis 1934 Weltgeltung erlangte und mit "Nataschas Tanz" eine glänzende Kulturgeschichte Russlands vorlegte, richtet sein Hauptaugenmerk auf das private Leben in Zeiten des Terrors. Er sichtete Lebenszeugnisse, Briefe, Aufzeichnungen, Tagebücher aus mehr als drei Jahrzehnten, von der Machtergreifung der Bolschewiki bis zu Stalins Tod, sprach mit Überlebenden und unzähligen Familienangehörigen. Sein besonderes Augenmerk gilt den Frauen und Kindern der Verhafteten und Erschossenen die, selbst wenn sie dem gleichen Schicksal entgingen, meist für ihr ganzes Leben gezeichnet blieben. Oft wurde das Schweigen über die eigene Geschichte zum einzig wirksamen Überlebensmittel . Es konnte geschehen, dass sich in der Zeit nach Stalins Tod, selbst Ehepartner erst jahrzehntelang später als Kinder von "Feinden" voreinander offenbarten. Dem Schweigen entsprach das Flüstern – so der Titel von Figes Buch – ein Flüstern um sich und andere zu schützen. Es konnte aber auch das Flüstern der Denunzianten sein, die zu den Werkzeugen des Terrors zählten und ein alles durchdringendes Misstrauen beförderten, dass vor kaum einem Mitmenschen halt machte.
Beide Bücher fesseln und ziehen den Leser auf Hunderten von Seiten mit, beide Bücher lassen ihn jedoch ratlos zurück, wenn es um den Wesenskern dauerhafter terroristischer Energie geht, die nicht auf persönliche Charakterzüge eines Tyrannen oder ideologische Verblendung reduziert werden kann. Die Autoren wollen neues Material bereitstellen, die Suche nach Antworten befeuern, nicht aber eine neue fertige Interpretation liefern
Karl Schlögel und Orlando Figes konnten sich bei ihren Archivrecherchen, der Materialsuche und den zahlreichen Interviews auf die Historiker und die Mitglieder der Russischen Menschenrechtsorganisation Memorial stützen, die von der unbeugsamen Wahrheitssuche und den Werten der vorangegangenen demokratischen Opposition geprägt sind. In Zeiten eines wiedererstandenen autoritären Regimes, nationalistischer Geschichtspropaganda und der Unterdrückung des freien Wortes, stehen sie für das Prinzip ziviler Verantwortung gegenüber der Geschichte, als Voraussetzung für eine bessere Zukunft.
Karl Schlögel
Terror und Traum. Moskau 1937
Carl Hanser Verlag, München 2008
816 Seiten, 29,90 Euro
Orlando Figes
Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland
Berlin-Verlag 2008. 1040 S.