Die Suche nach der eigenen geschichtlichen Identität in der DDR

Der Ausgangspunkt jahrzehntelanger Herrschaft der Kommunisten in der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks schloss eine fundamentale Verfälschung und Manipulation von Geschichte ein. Umgekehrt waren gesellschaftlicher Widerstand gegen Unfreiheit und Unterdrückung, Dissidenz und Opposition auch immer ein Kampf um die Rückgewinnung der Geschichte, den Zugang zu authentischen Informationen, Erinnerungen und deren Vermittlung in die Gesellschaft.

In den 70er und 80er Jahren stellten wir uns in der DDR diese Frage nach der Rückgewinnung der Geschichte. Das klingt so selbstverständlich, aber wie sollte man das anstellen? Wie kommt man an die Literatur, an die Informationen, an die Personen heran? Wie kann aus dem kleinen Kreis, der danach sucht und solche Informationen sammelt, dann die Rückvermittlung in die eigene Gesellschaft passieren? Wie kann man in ei nem Land, das keine Öffentlichkeit kennt, einen unabhängigen Zugang zur Geschichte organisieren?

Für mich begann dieser Zugang mit der Literatur: Memoirenliteratur, die zeigte, welche lange demokratische Tradition in Russland existierten, Exilliteratur wie Solschenizyns „Archipel Gulag“, die Memoiren der Kronstädter Aufständischen, der ermordeten Menschewiki, Sozialrevolutionäre der oppositionellen Kommunisten – so fing unser Rückgang in die Geschichte an. Die Fragen der Gleichschaltung der Komintern oder die Dissidenten und Oppositionellen der späteren Generation, das war schon ein Ausgangspunkt, der uns die Differenzierung, die hier wunderbar auf den Punkt gebracht wurde, lebensprägend klar machte. Russland ist nicht die Sowjetunion, und auch die sowjetische Gesellschaft sind nicht die jeweiligen Machthaber.

Diese Unterscheidung hat uns über die Jahrzehnte hinweg als Oppositionelle vor jeder grundsätzlichen Phobie geschützt. In den 70er und 80er Jahren kam die Wahrnehmung der unabhängigen Geschichtsauseinandersetzung in den Nachbarländern dazu. Wie haben sich die tschechischen Oppositionellen oder die Aktivisten der Charta mit ihrer jüngsten Geschichte beschäftigt? Welche Geschichtsinitiativen wachsen aus der immer stärker werdenden Opposition? Die DDR-Geschichte mussten wir uns erst aneignen. Ich erinnere mich an Bücher von Autoren wie Wolfgang Leonhard, Heinz Brand und vielen anderen, die uns die Gründungsgeschichte der DDR ganz anders sehen ließen und zu immer weiteren Fragen führten.

Als Signale wie Glasnost und Perestrojka begannen, als im November 1988 das Sputnik-Verbot und das Aufführungsverbot von fünf sowjetischen Filmen erlassen wurden, die sich mit dieser jüngsten sowjetischen Geschichte beschäftigten, wurde auf einmal dem normalen DDR-Bürger klar: Veränderungen, auch im Sinne von überhöht angenommenem Reformprozess, bedeuten in der Sowjetunion einen Versuch, mit der Geschichte umzugehen, wie wir ihn in der DDR überhaupt nicht vor Augen hatten. Hier setzte eine Hoffnung ein, die bis in die Hälfte der 1990er Jahre anhielt: dass dieser Funke, der 1989 griff, wo sich für uns Geschichte und aktuelle Chance der Veränderung zusammenbanden, überspringt, auch dorthin, wo die internationale Herrschaft des Kommunismus begonnen hatte, nämlich in die Sowjetunion selbst. Die reale Geschichte haben wir alle vor Augen. In den 1990ern setzte die Konfrontation mit einer anderen Realität ein. Hier hat den Oppositionellen in den verschiedenen Ländern sehr geholfen, dass sie diesen langen, gemeinsamen Vorlauf hatten und das, was nach Jelzin kam, realistisch sehen konnten.

In Podkowa Lesna fand 1996 eine entscheidende Zusammenkunft von Oppositionellen aus über 20 Ostblockländern statt. Dort wurde die Frage gestellt: Was fangen wir mit unseren Erfahrungen und diesen langen Ausflügen in die eigene Geschichte an? Was verbindet uns international? Dort sind Vereinbarungen entstanden, die auf der gesellschaftlichen Ebene einiges bewirkt haben. Den verantwortlichen Umgang mit der Geschichte übernahmen Organisationen wie Memorial in Russland und die ukrainische Helsinki-Menschenrechtsgruppe, das Zentrum Karta in Polen, das Robert-Havemann-Archiv oder das Matthias-Domaschk-Archiv in Deutschland. Diese Organisationen waren bald gut vernetzt, Gründungen in anderen Ländern folgten. Dieser Prozess in den verschiedenen Reformländern hat auch gegenüber einer gegenteiligen Entwicklung in Russland in den letzten zehn Jahren geholfen. Die dortigen Kräfte stehen für eine realistische, selbstkritische Geschichtslinie und für den partnerschaftlichen Umgang mit den Nachbarn. Über ein Jahrzehnt währt der Dialog zwischen polnischen und ukrainischen Historikern, die auch versuchen, mit russischen Historikern auf dieser gesellschaftlichen Ebene ins Gespräch zu kommen. Wir von deutscher Seite können dabei unterstützen mit dem bewussten Rückbezug auf die eigene Diktaturerfahrung.

Den Prozess der Verständigung mit Gesprächen über Themen wie die Verbrechen der kommunistischen Ideologie, wie Katyń, zu beginnen, halte ich für möglich und notwendig, aber auch für sehr schwierig. Dem, was ich nannte, stehen gewaltige Defizite genau dieser Ebene gegenüber. Ich nenne ein Beispiel. Wir können eigentlich stolz darauf sein, dass wir in der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte eigene Publikationen wie „Horch und Guck“ geschaffen haben, die aus den Bürgerkomitees kamen. Als einige Autoren dieser Zeitschrift das Thema des Widerstands gegen die sowjetischen Okkupanten nach 1945 im Baltikum thematisierten, gab es von deutscher Seite heftige Kritik. Historiker und Publizisten argumentierten, dass eine Würdigung des bewaffneten antisowjetischen Widerstandes im Baltikum nach 1945 nicht akzeptabel sei. Bei diesen Widerstandsgruppen ginge es um Kräfte, die vorher mit den Deutschen kollaboriert hätten. Die Kontroverse zeigt, dass diese Fragen viel zu wenig aufgearbeitet sind. Die Defizite der russischen Seite zu benennen, ist viel einfacher, als unsere eigenen Defizite in der Diskussion zu thematisieren. 2009 ist ein Jahr der Jubiläen. Da gibt es zögernde Politiker, da gibt es Blockaden, da hätten diese Initiativen, über die ich und die anderen sprachen, eine große Chance. Aber dann müssen wir zu einer Kontroverse untereinander bereit sein. Von der russischen Organisation Memorial wurden in den letzten Jahren zwei Dokumente vorgestellt. Der erste Appell ist der Aufruf zum Umgang mit dem Terrorjahr 1937, eine detaillierte Analyse dessen, was dazu in Russland bisher passiert ist und was nicht und welche Auswirkungen diese Versäumnisse auf die eigene Gesellschaft haben. Der zweite ist der Aufruf zur Gründung eines internationalen Geschichtsforums. Wenn dieser Impuls aus dieser Veranstaltung mitgenommen und unterstützt werden könnte, wäre ein wesentliches Ziel erreicht.

 

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