"Das kann doch nicht alles gewesen sein...."

 

In einem Buch über das Europa des 20. Jahrhunderts kommt der englische Historiker Mark Mazower zu dem Schluss, dass die Freiheit zwar das Ergebnis des Umsturzes von 1989 gewesen sei, das Verlangen danach aber nicht seine Ursache. Lapidar konstatiert er: „Der wirkliche Sieger von 1989 war nicht die Demokratie, sondern der Kapitalismus“. Gründlicher kann man nicht danebenliegen. Weder im Wollen der Beteiligten noch in den Ergebnissen gibt diese Trennung oder Aufteilung einen Sinn. Das westliche Europa der Nachkriegszeit war für die Menschen im Ostblock anziehend als Demokratie und Wohlstandsmagnet. Eines Wohlstandes, der die breiten Massen einschloss und den Vorkriegskapitalismus sozialstaatlich bändigte. Das Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit und Beteiligungschancen, welche die Schwächeren der Gesellschaft nicht zu Almosenempfängern oder einer abzufütternden Arbeitslosenreserve degradieren, begleitete alle Proteste und Aufstände, welche das kommunistische Regime erschütterten und schließlich zum Einsturz brachten. Die Sehnsucht nach Freiheit war mehrheitlich auf ein besseres Miteinander gerichtet, nicht darauf das Recht des Stärkeren endlich voll zur Geltung zu bringen.

 

Es war Milan Horacek, tschechischer Ex-Dissident und Ex -Grünenpolitiker, der im Frühjahr 2001 das Kunststück fertigbrachte, ehemalige Oppositionelle aus nahezu allen Ländern Mittelosteuropas und der untergegangenen DDR auf dem Prager Hradschin zusammenzuholen. Jeder Zugkilometer dorthin war für mich mit Erinnerungen gefüllt. Doch was erwartete mich jetzt? Václav Havels Eröffnungsworte und der Appell von Árpád Göncz: „wir sollten sehen, was wir an uns noch wiedererkennen und ob wir uns noch an den Händen halten können“, konnten die Brücke zu einem Veteranentreffen zwischen Rührung, spätabendlichem Besäufnis und nachmitternächtlichem Zwist sein. Was dann kam war glücklicherweise anders.

 

Frauen und Männer, die sich zum Teil lange Jahre nicht gesehen hatten oder nur vom Hörensagen kannten, trafen sich als sozialdemokratische, liberale oder konservative Regierungspolitiker und parlamentarische Oppositionelle, etablierte oder ausgestiegene Intellektuelle, Künstler und Sozialarbeiter. Verbunden durch einen entscheidenden Teil ihrer Biographie, durch die Karrieren als Fensterputzer, Nachtwächter und Heizer, konnten sie sich, konnten wir uns, sehr schnell die wichtigsten Fragen stellen. Das waren natürlich in erster Linie Fragen nach uns selbst, den alten Hoffnungen, nach Enttäuschungen und neuen Ufern; es ging aber sehr bald auch um die Regierungskrise und den Umgang mit den Medien in Tschechien, um die slowakischen Querelen um Meciar, um politische Feindschaften in Ungarn, das miserable Bild des polnischen Solidarnośćblocks oder die allenthalben spürbare Aufbruchstimmung der Postkommunisten - plötzlich purzelten die Themen.

 

Und im Hintergrund stand immer die Frage nach Europa. Da war auf der einen Seite das verbindende Gefühl der gemeinsam gelebten Erfahrungen in vierzig Jahren Realsozialismus. Wir waren Nachbarn in Unfreiheit, unter einem Dach zusammengesperrt, und lehnten uns früher oder später dagegen auf. Irgendwann, wie durch ein Wunder, sogar mit Erfolg.

 

Und mehr als zehn Jahre später, was war da? Wer, wie ich, als ehemaliger DDR- und späterer Neubundesbürger nach Prag kam, sich in der dortigen Runde ganz selbstverständlich als Teil des Ostens fühlte und genauso selbstverständlich als EU-Bürger, bekam die Kluft und Spannung am stärksten mit:

 

„Wir stehen als Beitrittsländer wie Bettler vor den Toren der EU, streiten uns um die Plätze in der Warteschlange und sind gehalten, uns dabei ordentlich zu benehmen und die Maßstäbe der Hausinsassen zu akzeptieren. Ist es dann nicht aberwitzig, wenn wir hier als Personen zusammensitzen und versuchen, eigene Forderungen und Maßstäbe zu entwickele, ob für Minderheitenrechte, die Arbeit von Medien, den europäischen Verfassungsprozess, Sozialstandards oder die außenpolitische Handlungsfähigkeit eines vereinten Europa?“

 

Aus anderem Anlass und mit anderen Beteiligten, konnte ich einige Monate vorher in Berlin eine ähnliche Situation erleben. Genau zum 50. Jahrestag des „Kongresses für kulturelle Freiheit“ führte die Publizistin Ulrike Ackermann, Gründungsmitglieder und Veteranen der ersten Stunde, Osteuropäer, Westeuropäer und Amerikaner, zusammen. Der Bogen spannte sich vom Erinnerungsteil, der Verteidigung der Freiheit in der Zeit des Kalten Krieges, bis zum Abschlusspodium mit der Frage nach der Zukunft der Freiheit. Hier machten die mittelosteuropäischen Teilnehmer unmissverständlich klar, dass für sie Freiheit mehr sei, als die Chance auf den westeuropäischen Wohlstandszug aufzuspringen. Wer aber andererseits die Tür zuhalte, weil er den Ansturm der Habenichtse fürchte, begehe einen neuerlichen Verrat an der Freiheit.

 

Der vehemente Anspruch dazu zugehören, die auf das künftige Europa gerichteten Erwartungen und Hoffnungen osteuropäischer Dissidenten und Intellektueller lassen viele Deutsche und Westeuropäer den Kopf schütteln und zweifeln. Haben nicht die internationale und die europäische Entwicklung sowie die Wirklichkeit der neunziger Jahre nahezu alle alten Hoffnungen Lügen gestraft?

 

Mühsam erkämpfte sozialstaatliche Errungenschaften und Kompromisse scheinen an ihre Grenzen gekommen, der rheinische Kapitalismus ein Auslaufmodell zu sein. Globalisierungszwänge und die wirtschaftlichen Probleme westeuropäischer Wohlfahrtsdemokratien lassen zahlreiche Politiker und ganze Teile unserer Gesellschaften immer ungehemmter nach der Entbremsung von Marktkräften rufen. Die weitere Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich wird verdrängt, billigend in Kauf genommen oder offen begrüßt. Mit einer denkbar einfachen Legitimationsformel: Wenn es den Leistungsträgern gut geht, wenn wir mehr Reiche haben, zahlt sich das für alle aus.

 

Der nackte Ökonomismus ist auf dem Vormarsch. Er findet in den Surrogaten der Spaßgesellschaft, dem massenmedialen Gedudel der Unterhaltungsindustrie seine Entsprechung. In den jungen Demokratien Mittelosteuropas korrespondieren die Zugewinne an politischer Freiheit mit horrenden sozialen Problemen. Die Konjunktur populistischer Propheten ist die Folge.

 

An solche Klage mag vieles richtig sein und doch stellt sie für mich die Wirklichkeit in mehrfacher Weise auf den Kopf. Was den Osten betrifft: Die Wirkungen der gewaltigen Umbrüche und Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft der maroden staatswirtschaftlichen Systeme lassen sich nicht auf die Formel vom „Sieg des Raubtierkapitalismus“ bringen. Wo die Entwicklung Züge davon annahm waren es gerade nicht die Kräfte von 1989, die dafür standen, sondern bereicherungswütige kommunistische Altkader und technokratische Trittbrettfahrer wie Vacláv Klaus. An den Konflikten über das richtige Tempo notwendiger Reformen und die Verteilung der Lasten brachen ganze Teile der alten Opposition auseinander. Doch trotz aller populistischen Zwischenkonjunkturen und aller nationalistischen Tendenzen wurden Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gewaltenteilung in allen mittelosteuropäischen Reformstaaten verankert.

 

Im Westen ist die Frage des künftigen ökonomischen Entwicklungskurses alles andere als entschieden. Gegen neoliberale Begehrlichkeiten und Erlösungsbotschaften regt sich in vielen Ländern zunehmender Widerstand; die beschwörenden Versuche, dem amerikanischen Modell Wunderkräfte und Vorbildcharakter zuzuschreiben, werden durch soziale und wirtschaftliche Realität der USA selbst entkräftet. Die Gewerkschaften sind keineswegs tot und werden in ihrer sozialen Verteidigungsrolle längst von flexiblen Netzwerken und neuen gesellschaftlichen Koalitionen ergänzt und überholt, die sich den angeblichen ökonomischen Sachzwängen entgegenstemmen.

 

Es fehlt auch keineswegs an Alternativkonzepten, Visionen und Utopien, die der schlechten und unvollkommenen Wirklichkeit den Laufpass geben wollen, eine „Logik der Rettung“ verheißen und schon mal den Generalplan für eine vollkommene Welt entwerfen. Allein im deutschsprachigen Diskussions- und Rezeptionsraum der letzten Jahre, lassen sich genügend Beispiele finden: Auf dem fundamentallinken Flügel unter anderem Robert Kurz, der in seinem voluminösen „Schwarzbuch des Kapitalismus“ abgrundtiefe Verachtung für reformistische Flickschustereien an den Tag legt. Für ihn ist die profitgesteuerte Maschinerie der Moderne nicht menschenfreundlich oder auch nur menschenverträglich zu gestalten. Das einzige was hilft sei, genügend Knüppel ins Getriebe, es still zu legen und einen anderen Antrieb einzubauen. Von etwas weiter her grüßen Rudolf Bahro und seine Schüler, die sich auch nie mit Halbheiten zufrieden gaben. Unter Totalabriss und Neubau läuft bei Ihnen gar nichts. Natürlich mit ausgesuchten Eliten und erleuchteter Führung: mal der Rat der Weisen, mal der Fürst der Wende.

 

Viel realistischer und vermittelnder wirkt da Johanno Strasser, wenn er gegen „ die Zurichtung des Menschen zu einem Element des Marktes“ anschreibt . Vielen seiner richtigen und einleuchtenden Einwände und Vorschläge in Sachen Arbeit und Muße, Sicherheit und Freiheit, Aktivierung der Bürgergesellschaft, fehlt jedoch die Bodenhaftung.

 

Ähnlich wie bei Ulrich Beck und anderen Multitalenten, auf die sich Strasser häufig bezieht, sind Ideen und Konzepte auf die aktuellen technologischen und medialen Entwicklungen bezogen, sie sind konkret und dennoch von einer seltsamen historischen Ortlosigkeit. Was soll die Menschen von konkurrierenden, egoistischen, kurzsichtigen Gewohnheiten und Bedürfnissen abbringen, wenn Ihnen der reale Alltag das Beharren darauf suggeriert? Der Appell an ihre Bürgertugenden? Die Drohung mit der nahenden Katastrophe? Wo sind die Plätze, Orte, Zeiten möglicher, nötiger Veränderung und wie sehen sie aus?

 

An dieser Stelle komme ich wieder auf die Frage nach dem Charakter und dem historischen Stellenwert der europäischen Befreiungsrevolutionen von 1989. Scharfsinnige und desillusionierte Beobachter konstatierten damals, mit den Ereignissen sei kein Menschheitstraum wahr geworden, sondern lediglich ein wirrer, schlechter Traum, ein Albtraum, zu Ende gegangen. Sie hatten nur zur Hälfte recht. Der Traum von einem freien, selbstbestimmten Leben, von einem besseren Miteinander wurde nicht nur in den Küchen der Dissidenten beschworen. Er erfüllte das gesamte östlichen Völkergefängnis. Wolf Biermann besang diesen Traum, lange nachdem er die Jakobinermütze fortgeworfen und die Suche nach dem roten Stein der Weisen aufgegeben hatte. Er ist in den polnischen Versen enthalten von den Mauern, welche einstürzen und die alte Welt unter sich begraben, wie in dem wunderbar zärtlichen tschechischen Lied von der wichtigsten Sache im Leben - der menschlichen Freiheit.

 

An diesem entscheidenden und zugleich überschreitenden Impuls von 1989 festzuhalten, diesseits aller Träume, heißt auch, sich gegen einiges zu wehren.

Zu wehren gegen symbolische Okkupation und die Vereinnahmung von falscher Seite: Mehr als zehn Jahre danach sollten nicht mehr die Strassen und Plätze von Budapest, Prag und Leipzig die wahren Orte, nicht mehr die Demonstranten die wirklichen Akteure der Geschehnisse gewesen sein. Kabinette und Staatsmänner traten an ihre Stelle, Regierungschefs drängten dazu. Zu wehren gegen eine Abwertung der Zäsur und des Epochenbruchs: Das verbreitete Gerede von der Wende, ihre Interpretation im Sinne einer lediglich „nachholenden Revolution“ und die schlichte Suggestion des bloßen Ankoppelns an einen stabil weiterfahrenden Zug unterlaufen in unterschiedlicher Weise allesamt die auslösende Kraft und die Folgedynamik für das erneute Zusammenwachsen Europas. Man konnte sich eine Zeitlang einreden, es ginge in Deutschland bloß um Anschluss-Wiedervereinigung, man konnte die Anstrengung einer wirklichen Neuvereinigung scheuen und die damit verbundene Chance ausschlagen. Die Folgen sind zu besichtigen. Man kann bis heute von den europäischen Beitrittsländern sprechen und die Aufgabe der Neugestaltung Europas kleinreden. Die tatsächliche Neugestaltung hat mit 1989 begonnen und entwickelt sich weiter.

 

Andererseits: Wer sich gegen Vereinnahmung und Abwertung wehrt, sitzt leicht der Selbststilisierung auf. Aus dem kleinen Elektriker der Leninwerft wurde ein launischer und tyrannischer Möchtegern-Pilsudski, der nahezu alle seine alten Gefährten verprellte. Die strahlenden und menschlichen Symbolfiguren der Revolution, von Václav Havel über Adam Michnik bis zu Bärbel Bohley bekamen Beulen und Blessuren, machten zwischendurch opportunistische Schwenks oder schickten sich an, den Bettel hinzuwerfen. Der Dissidententypus mit oder ohne Bart stellte nicht nur Lauterkeit und Integrität unter Beweis, sondern spielte in Gestalt zahlreicher Vertreter auf der Klaviatur der Macht nicht weniger durchtrieben mit als die ausgefuchsten Berufspolitiker. An den Runden Tischen erfüllte sich nicht das Wunder von den Wölfen, die zu Schafen werden. Sie hatten als Möbel ihre unverzichtbare Funktion, gleichzeitig waren sie Orte von Kompromissen, die bis heute umstritten sind.

 

Wer die überschreitende Wirkung von 1989 erkennen will, muss einen anderen Weg wählen. Irgendwie ist es, wie bei der Französischen Revolution. Kaum ein Mensch käme heute noch auf die Idee, ihre befreiende Jahrhundertwirkung in Frage zu stellen, weil in den Auseinandersetzungen von Jakobinern und Girondisten die Werte Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit unter die Räder gerieten oder weil Napoleon Bonaparte zum Kaiser und Usurpator wurde. Ein Pazifist kann heute die Marseillaise summen, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben.

 

Die historische Tiefenwirkung und das unabgegoltene Erbe von 1989 kann nur auf der Handlungs– und Ereignisebene erfasst und entschlüsselt werden. Kein anderes Denken kommt in Beschreibung und Vorwegnahme dem politischen Nerv von 1989 näher als das von Hannah Arendt. Ihr libertäres Ethos, ihre Utopie eines zivilen, staatsbürgerlichen Ideals provozierte in den europäischen Nachkriegsjahrzehnten Rechte wie Linke gleichermaßen. Paolo Flores d` Arcais, Philosoph und Herausgeber der Zeitschrift MicroMega, spricht von ihr als libertärer Existentialistin, der nie daran lag, mit ihrer Epoche Frieden zu schließen, sondern deren Widersprüche bis zum Ende durchzudenken. Sie rückt genuin politische Kategorien in den Mittelpunkt ihres Denkens, stellt sie mit aller Entschiedenheit über ökonomische Mechanismen und soziale Konflikte. Hannah Arendts Vorstellung des politischen Raumes als Möglichkeit der Verständigung und politischen Handelns, ihr Festhalten am tätigen Moment der Demokratie, ihre Kritik an Parteienmonopol und Berufspolitikern findet sich in 1989 wieder. Nicht einmal so sehr in den Programmschriften und Dokumenten, sondern im Handeln der Akteure, ihren Ansprüchen und Forderungen. Die junge polnische Soziologin Samanta Stecko beschreibt diesen Zugang in der europäischen Revue Transit am Beispiel der Solidarnosc. Diese Massenbewegung, die keine einheitliche Ideologie hervorbrachte, die zerfiel und zerfallen musste, mit allen Depressionen, die das bedeutete, wird nicht die Handbücher der Ideengeschichte bereichern. Sie wird aber als Exempel einer existentiellen Erfahrung individuellen und kollektiven Autonomiegewinns, der friedlichen Eroberung eines bisher verschlossenen und unentdeckten Raumes bestehen bleiben.

 

Man kann die Erfahrungen und das konkret-utopische Potential von 1989 an den realpolitischen Härten auflaufen und zerschellen sehen und dies bedauernd oder schadenfroh beschreiben.

 

Bedauernd, wie Timothy Garton Ash, der den Unwillen zur Macht und zu berufspolitischen Finessen bei vielen Dissidenten und Akteuren wahrnimmt. Als wacher Zeitgenosse und Chronist saß er lange vor 1989 an den Prager, Budapester, Warschauer und Berliner Küchentischen. Für ihn ist klar; man konnte Dissident sein und Außenseiter bleiben. Man konnte sich entscheiden, als Dissident nach 1989 in die Politik zu gehen. Man konnte sich von einem politischen Intellektuellen in einen Berufspolitiker verwandeln. Beides zusammen geht nicht. Daran sieht er die Tragik eines Mannes, wie Vacláv Havel.

 

Einen ganz anderen Zugang zu Siegen und Niederlagen drückte Kazimierz Wóycicki, polnischer Intellektueller und Solidarnosc-Aktivist aus. Als er mit dem Sieg der Postkommunisten in den Parlamentswahlen konfrontiert wurde, war es kein schwarzer Humor, der ihn antworten ließ: „Ja sie haben gesiegt, aber sie mussten dafür unser Spielfeld wählen und unsere Regeln annehmen.“

 

Wie gültig und brisant entscheidende politische Impulse, die 1989 zu Tage traten geblieben sind, zeigt die Krise der großen Parteien und der alten politischen Formationen in den europäischen Demokratien. Hier ist kein perfektes Gegenmodell in Sicht; Runde Tische und direkte Demokratie, Bürgerbewegung und kritisches Engagement außerhalb der Parteien, werden den traditionellen Rahmen parlamentarischer Demokratie nicht einfach sprengen. Sie werden aber der Frage nach dem Europa der Bürger und der Gestalt des neuen europäischen Hauses ihren Stempel aufdrücken.

 

Im sozialen Sinne wird Europa keine Insel der Seligen sein, aber es wird sich entscheiden müssen, ob es unter schwierigen Bedingungen dem Wort und dem Wert „Solidarität“ die Treue hält. Diejenigen, die auf einen ganz anderen Zug steigen wollen, in dem die Plätze und Abteile anders verteilt sind, sollten sich lieber nicht auf 1989 berufen .

 

Von den Gründungsmomenten des polnischen KOR und der tschechisch-slowakischen Charta 77 an, war es die Frage der Menschenrechte, die das Feuer der mittelosteuropäischen Opposition zum Brennen brachte. Ihre Einforderung, die Berufung auf ihre internationale, universale Geltung hielt die isolierten Gruppen der Dissidenz aufrecht und sorgte in der ummauerten und gelähmten DDR-Gesellschaft für einen späten Kraftschub. Menschenrechte und Demokratie waren die Klammer für eine mehr als heterogene, internationale Protestbewegung, die sich nicht nur gegen die Diktatur im eigenen Land oder im eigenen Block wandte.

 

Wenn das zögernde und selbstbezogene demokratische Europa nun endlich Schritte unternimmt, der internationalen Durchsetzung von Menschenrechten Geltung zu verschaffen, wenn internationale Tribunale zur Verfolgung von Diktatur- und Kriegsverbrechen die Arbeit aufnehmen, ein internationaler Strafgerichtshof zur Realität wird, kann das Wort von den „Lehren der Geschichte“ tatsächlich noch einen Sinn bekommen und damit Jahrhunderthistoriker wie Hobsbawn und Fukuyama Lügen strafen, die meinen, dass die großen historische Erzählungen vorbei seien, dass sich die utopischen Potentiale erschöpft hätten.

 

Für die Aufgabe, die uns in den kommenden Jahrzehnten in Europa erwartet, sind wir meiner Meinung nach ganz am Beginn einer neuen großen historischen Erzählung. Nüchternheit und die Energie durchlebter Geschichte werden darin genauso gebraucht, wie Visionen und Selbstvertrauen. Ob die Vereinigten Staaten von Europa am Ende dieser Erzählung zu einem Haus geworden sind in dem sich unsere Träume erfüllen lassen, ist eine ganz andere Frage.

 

zurück