Charta 77 – Nähe und Einfluss
Wolfgang Templin
Auf den Podien und den Diskussionsrunden unserer Jubiläumsveranstaltung in Prag, findet die Vielzahl individueller Kontakte zwischen den Dissidenten verschiedener Ostblockstaaten Würdigung. Ihre Beziehung zu Vertretern der Charta 77, die Wege der Kontakte, das Abenteuerliche der Treffen, Phasen der Isolation und des verstärkten Austausches kommen zur Sprache. Ich möchte diesen Schilderungen nicht eine weitere Facette hinzufügen, sondern aus meiner Erfahrung zwei Schwerpunkte beschreiben, welche für viele von uns nachwachsenden DDR-Oppositionellen die Beziehung zur tschechischen Seite so besonders sein ließen.
Dies ist zum Einen die spezifische Nähe zum tschechischen und slowakischen Oppositionsmilieu in den siebziger Jahren und zum anderen der intellektuelle und politische Einfluss, den die Initiativen der Charta 77 auf die oppositionellen Menschenrechtsansätze in der späten DDR ausübten.
Spätestens seit Mitte der sechziger Jahre, gehörten ein Besuch oder Zwischenstopp in Prag, zum festen Bestandteil von Ferien- oder Urlaubsreisen der jüngeren Generation in der DDR. Wer die Schwarzmeerküste oder das rumänische oder bulgarische Gebirge als Fernziel wählte, machte in Prag vielleicht nur kurz halt, um dann erneut in Budapest zu verweilen oder unterwegs in Bratislava halt zu machen. Man konnte den Plattensee erkunden oder die Hohe Tatra entdecken. Die Faszination ostmitteleuropäischer Metropolen und aufregender Landschaften verband sich mit der vielleicht noch größeren Faszination eines Aufbruchs, der im tschechischen Nachbarland vor sich ging. Nachrichten von der Kafka-Konferenz drangen in die DDR, tschechische und slowakische Filme, die zwar nicht in das offizielle Kino-Programm gelangten aber über zahlreiche Filmklubs und das Haus der tschechischen Kultur in Ostberlin ihr Publikum fanden, waren bei jungen DDRlern sehr beliebt.
Viele von uns teilten die Hoffnung und den Traum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, einer Reformbewegung aus dem Inneren der kommunistischen Partei heraus. Wir teilten diesen Traum, obwohl die DDR des späten Walter Ulbricht, nicht allzu viel Grund zur Hoffnung bot. Die besten Bücher und Filme dieser Jahre, drücken Momente einer solchen Hoffnung aus, ihre Spuren sind nicht nur in den Liedern des jungen Wolf Biermann zu finden. So, wie wir die Hoffnung teilten, erreichte uns auch den Schock des Scheiterns. Ein Schock, der spätestens mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes einsetzte und lange anhielt. Es kam zu keinen Massenprotesten in der DDR, sehr wohl aber zu einer Vielzahl individueller Protestaktionen. Flugblätter und Plakate, die den Einmarsch verurteilten und zur Solidarität mit den Prager Reformern aufriefen, die Verweigerung von eingeforderter Zustimmung zur „Bruderhilfe“ sind nur Beispiele von Reaktionen.
Mein eigenes Beispiel zeigt, wie zeitverschoben die Wirkung der Prager Lektion sein konnte. Ich stand emotional auf Seiten der Reformer, verabscheute die Panzer und glaubte dennoch den Phrasen vom höheren historischen Sinn des Kampfes gegen die Konterrevolution. Erst Jahre später begriff ich, wer sich hier wirklich gegenüberstand und wie es um die Chancen eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz bestellt sein musste.
Als über die CSSR endgültig die Nacht der Unterdrückung und Gleichschaltung hereinbrach, als die „sieben bleiernen Jahre“ von Prag begannen, rissen die Kontakte nicht ab, wurde das Gefühl dafür, im gleichen Bleisarg eingesperrt zu sein, eher stärker. Die Pseudoöffnung, nach der Ablösung des altersstarren Walter Ulbricht durch Erich Honecker, konnte niemand wirklich überzeugen oder gar mitreißen. Eine proklamierte Einheit von „Wirtschafts- und Sozialpolitik“ war der relativ wirksame Versuch, größere Teile der Bevölkerung ruhig zu stellen, Nischen der Privatisierung zu schaffen. Öffnung und Liberalisierung des Regimes bedeuteten sie nicht, ebenso wenig wie die Reiseerleichterungen innerhalb des Ostblocks. Polen als nächstes östliches Nachbarland übte auf viele von uns große Faszination aus, schien aber für den oberflächlichen Blick unter Edward Gierek gleichfalls zur Ruhe gekommen. Jeder genauere Blick zeigte ein anderes Bild. Wie stark das Potential von Widerstand und offenem Aufruhr dort war, konnte man bei den Werftstreiks von 1970 und ihrer blutigen Niederschlagung erahnen und Jahre später mit den Streiks von Radom und Ursus, den folgenden Repressionen und der Gründung des KOR, bestätigt finden. Wer, wie ich aus der DDR kommend, damals Polen kennen lernte, fand bei aller Nähe der Systeme, gewaltige mentale Unterschiede und Traditionsbezüge vor. Politische Opposition in Polen, selbst wenn sie lange Zeit auf eine kleine Minderheit beschränkt war, zeigte einen Zustand an, der unserer Lähmung und Selbstauslieferung um Lichtjahre voraus war.
Lähmung, erzwungene Unterwerfung und Selbstauslieferung mit all ihren Folgen, hier fanden wir größere Ähnlichkeiten auf der tschechischen und slovakischen Seite. Die unheroische, schlitzohrige Art mit der ein Schwejk sich dem Anspruch der Machthaber zu entziehen suchte, musste dem beweglicheren DDR-Bürger näher sein als die Symbole eines heroischeren Befreiungskampfes auf der polnischen Seite. Nahezu jeder konnte seinen Partner auf der anderen Seite finden. Der DDR-Spießbürger wetteiferte mit seinem tschechischen Pendant um die komfortablere Datsche, die Parteisekretäre beider Seiten teilten die Erfahrungen frisierter Bilanzen und verlogener Erfolgsberichte. Die künftigen Oppositionellen beider Länder schließlich fieberten dem Ende der bleiernen Zeit entgegen. Im Jahre 1976 riss in Polen die Erfolgssträhne Edward Giereks ab. Was folgte, waren die unruhigen Inkubationsjahre des Jahrhundertereignisses der “Solidarnosc“. Wir hatten unser eigenes 1976, mit dem Opfertod des Pastors Oskar Brüsewitz , der die Erinnerung an Jan Palach weckte und der Ausbürgerung Wolf Biermanns. Unruhen und Proteste, die der Biermann Ausbürgerung folgten, bedeuteten noch lange keinen gesellschaftlichen Aufbruch oder auch nur das Signal für eine handlungsfähige Opposition.
In dieser Situation wirkte die Nachricht von der Initiative der Charta 77, wie ein ferner und zugleich sehr naher Hoffnungsklang. Konfrontiert mit einer Gesellschaft, die sich in ihr Schicksal zu fügen schien, machten sich eine Handvoll Frauen und Männer daran, den Bann des Schweigens zu brechen. Sie warfen der Staatsmacht nicht den oppositionellen Fehdehandschuh zu, wussten kein soziales Protestpotential hinter sich, kamen aus verschiedenen Traditionen und Zusammenhängen. Was sie vereinte, war das Gefühl staatsbürgerlicher Verantwortung, die Hoffnung auf die Tragfähigkeit gemeinsamer Werte und das Bewusstsein eines langen Weges, der ihnen gemeinsam bevorstand. Es war eine Initiative, die sich nicht als Organisation verstand, weder Statuten noch ständige Organe hatte, keine organisierten Mitglieder kannte. Wer der Idee der Charta zustimmte, an ihrer Arbeit teilnahm und sie unterstützte, gehörte dazu. Selbstredend waren die Existenz der Charta und ihre Gründungsideen mit dem KSZE-Prozess verbunden und schlossen die Forderung ein, dem tschechische Regime der Ergebnisse dieses Prozesses abzuverlangen.
Der Anlass, welcher die Proklamation zur Gründung der Charta 77 auslöste, Repressionen gegen die Rockgruppe Plastic Peoples of the Universum, klang für DDR Ohren sehr vertraut. Die in Tschechien ungeheuer populäre Musikgruppe verstand sich als Teil einer alternativen, staatsunabhängigen Musikszene, wie sie sich auch die DDR seit den sechziger Jahren entwickelte. Unterhalb der Schwelle einer politischen Opposition, gab es dort eine rebellische Rock- und Bluesszene, die später durch die Punkbewegung ergänzt wurde.
Ein internationale Unterstützergruppe, die sich kurz nach der Proklamation der Charta 77 bildete – ihr gehörten unter anderem Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Graham Greene, Artur Miller an – trug dazu bei, dass die Bürgerrechtsinitiative sehr schnell bekannt wurde und das restaurative Husak- Regime sehr genau überlegen musste, welche Mittel sie gegen die Vorboten einer unabhängigen Gesellschaft einsetzen konnten.
Knapp zehn Jahre später, Mitte der achtziger Jahre, hatte sich die Situation im gesamten Ostblock dramatisch verändert. In Polen hatte sich die millionenfache Solidarnosc-Bewegung, weit über den Rahmen einer unabhängigen Gewerkschaft hinaus, zur Herausforderung für das parteikommunistische Machtmonopol entwickelt. Die eindämmende Wirkung des Kriegsrechts, hielt nicht lange an und konnte den Widerstand der Gesellschaft nicht auf Dauer brechen.
In Ungarn regte sich unter den Bedingungen des „Gulaschkommunismus“ eine zunehmend vitalere demokratische Opposition. In der Sowjetunion waren nach dem Tod Leonid Breschnews die Vorboten der Perestroika zu spüren.
Die DDR und die CSSR erschienen dem gegenüber als Hort realsozialistischer Stabilität. Zwar hatte es das Husak- Regime nicht geschafft, die Arbeit der Charta lahm zu legen, sie blieb aber eine kleine und relativ isolierte Initiative, die mit ihren Dokumenten, Appellen und Analysen Zeichen setzte, jedoch die lähmende Erstarrung der breiten Gesellschaft noch nicht aufheben konnte.
In der DDR bildeten sich in Reaktion auf die fortschreitende Militarisierung des proklamierten Friedensstaates, seit Ende der siebziger Jahre zunehmend mehr unabhängige Friedensgruppen und –Kreise, die sich dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ verbunden wussten. Der allergrößte Teil dieser Initiativen bewegte sich unter dem Dach der protestantischen Kirche, die eine Schutzfunktion ausübte, von staatlicher Seite aber zugleich als Möglichkeit für die Entpolitisierung und Kontrolle der Gruppenszene betrachtet wurde. Die Beziehung auf den internationalen Entspannungs- und KSZE-Prozess, die Anlehnung an Traditionen und Aktionsformen der westlichen Friedensbewegung und die enge Gemeindebindung vieler Akteure, waren typisch für die frühe Phase unabhängigen Friedensengagements in der DDR. Den Friedensgruppen, folgten sehr schnell einzelne Umwelt- und soziale Selbsthilfegruppen , die in der Regel gleichfalls im Kirchenraum agierten.
Das Jahr 1983 markierte den Höhepunkt und zugleich, die entscheidende Krisenphase der unabhängigen Friedensbewegung der DDR. Für die mittlerweile vielgestaltige Gruppenszene wurde das Kirchendach zu eng. Die Frage, wie mit verstärktem Druck der Staatsseite und den Einhegungsbestrebungen der Kirche umzugehen sei, löste heftige interne Debatten aus. An diesem Punkt setzten die Beispielwirkung und das Vorbild der Charta 77 ein.
Weder die millionenfache soziale und politische Massenbewegung der Solidarnosc, noch die intellektuell und konzeptionell anders entwickelte ungarische demokratische Opposition, konnte bei den nächsten Entwicklungsschritten der unabhängigen DDR-Bewegung Pate stehen. Ihre Bedeutung und ihr Einfluss wurden im Horizont von 1989 sichtbar. Das viel nähere Beispiel und die Erfahrung einer vergleichbaren Situation verkörperte für uns die Charta 77.
Die Auseinandersetzungen um die Vorbereitung und Gestaltung eines Menschenrechtsseminars unter dem Dach einer Berliner Kirchengemeinde, waren der Auslöser für die Gründung der Initiative Frieden und Menschenrechte. Initiatoren und Gründungsmitglieder erklärten sich von Beginn ihrer Arbeit an als kirchenunabhängig, verzichteten auf den Schutz der Kirche, hielten aber den engen Kontakt zu den Gruppen im Kirchenraum. Der Verzicht auf eine formale Mitgliedschaft, die offene Struktur der Initiative und ein dreiköpfiges Sprechergremium, drückten bewusst die Nähe zur Charta 77 aus. In den Gründungsdokumenten und späteren Erklärungen, wurden diese Nähe und Vorbildwirkung unterstrichen, zugleich jedoch betont, dass die spezifischen Bedingungen der DDR, keine Kopie zuließen.
Neben positiven Reaktionen und Unterstützung aus den unabhängigen Kreisen, neben wütenden Abwehrreaktionen der offiziellen Staatsseite, welche hier zu Recht die Schwelle zur politischen Opposition überschritten sah, kam es zu Kritik und Vorbehalten von Seiten der Amtskirche und einem anderen Teil Gruppenspektrums. Zwei entscheidende Punkte der Kritik – Öffentlichkeit und Pluralismus - machen deutlich, welche inhaltlichen Nerv die Gründung der Initiative traf und wie nahe sie tatsächlich dem Ansatz der Charta 77 stand.
Das Prinzip der unbedingten Offenheit und Öffentlichkeit als Grundlage unabhängiger Menschenrechtsarbeit der IFM, wurde von ihren Vertretern in einem Brief zum zehnjährigen Bestehen der Charta 77 unterstrichen:
"Menschenrechte können nicht erhandelt oder zum Gegenstand diplomatischen Schacherns in Geheimverhandlungen gemacht werden. Die Entwicklung der Selbsthilfe und die Solidarität der Betroffenen wird die alte Stellvertreterpolitik überwinden. Der nationalen und internationalen Öffentlichkeit, darunter auch den Medien, kommt eine große Bedeutung dabei zu."
Internationale Öffentlichkeit und Medien waren die Reizworte, auf welche vor allem Vertreter der Kirche aber auch Mitglieder bestimmter Friedensgruppen allergisch reagierten. Sie wollten die Staatsseite nicht „überfordern“, setzten auf stille Diplomatie, sahen in den Vertretern freier westlicher Medien nicht Verbündete und zusätzlichen Schutz, sondern Provokation und Gefährdung.
Da die IFM hier nicht nur Erklärungen verfasste, sondern handelte; nach dem Vorbild der Charta, Ansätze eines eigene Samisdat aufbaute, den Kontakt zu verlässlichen Korrespondenten und Vertretern der internationalen Öffentlichkeit forcierte, waren die Grundlagen eines Dauerkonfliktes gelegt.
Vertretern einer "stillen Diplomatie" und einer paternalistischen Haltung gegenüber einer möglichst unpolitischen Gruppenszene, blieben die unter anderem am Vorbild der Charta orientierten Arbeitsprinzipien und Aktionsformen der IFM, dauerhaft Stein des Anstoßes.
Am bewussten weltanschaulichen Pluralismus der IFM, entzündete sich Kritik von linken Gruppen, die sich durchaus politisch verstanden und von einem in ihrem Sinne „bürgerlichen“ Verständnis der Menschenrechte nichts wissen wollten. Auch hier setzten Vertreter der IFM das Beispiel der Charta entgegen, in der Marxisten wie Peter Uhl, Christen und konservativ geprägte Oppositionelle zusammenarbeiteten, ohne ihre Differenzen und Kontroversen auszublenden.
Verteidigung und Durchsetzung der Menschenrechte, deren normative Geltung vorausgesetzt wurde, schuf einen Rahmenkonsens, der die Teilung in bürgerliche und sozialistische Menschenrechte überflüssig machte.
Der Streit um die Bedeutung der Öffentlichkeit, die Öffnung gegenüber westlichen Medien, den Oppositionscharakter der Gruppen hielt an, beförderte aber letztlich einen Differenzierungsprozess, der weit über die Berliner Gruppenszene hinausreichte. Die IFM blieb nicht die einzige Gruppierung der späteren DDR-Opposition, welche den Schritt in die Öffentlichkeit und eine Vielfalt von Aktionsformen wagten, welche den Übergang zu den Massenprotesten des Sommers und Herbstes 1989 vorbereiteten.