Kommune 3/2012
Forum für Politik, Ökonomie und Kultur
Wolfgang Templin

 

 

 

Wohin treibt die Ukraine?
Im Vorfeld der Fußball-EM steht das Land vor einer erneuten Zerreißprobe

 

Als 2008 die Entscheidung bekannt wurde, Polen und der Ukraine gemeinsam die Ausrichtung der Fußballeuropameisterschaften 2012 zu übertragen, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Polen sah sich in seiner Rolle als Brückenland in den europäischen Osten bestätigt und wollte über die sportliche Herausforderung hinaus, den proeuropäischen Kurs der Ukraine unterstützen. Die führenden Akteure der orangen Revolution von 2004 hatten zwar bereits zu dieser Zeit bewiesen, dass sie zur Kooperation unfähig waren, dennoch gab es die Hoffnung das Land aus dem postsowjetischen Sumpf herauszuziehen. Julia Tymoschenko als Ministerpräsidentin und Viktor Juschtschenko als Staatspräsident –einst als Traumpaar gesehen – kämpften verbissen gegeneinander und warfen ihrem Gegenkandidaten Viktor Janukowytsch den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2010 förmlich vor die Füße.

 

Bei seinem Amtsantritt gab sich der ehemalige Gangster aus dem ostukrainischen Donezk geläutert und erklärte am proukrainischen Kurs seines Landes festhalten zu wollen. Polen solle in ihm einen guten Partner bei der Vorbereitung und Ausgestaltung der Fußballeuropameisterschaft haben. Die Realität der letzten beiden Jahre übertrumpfte dann allerdings selbst die schlimmsten Befürchtungen. Statt der angekündigten soliden Reformschritte und eines fairen Umgangs mit dem politischen Gegner, läutete Janukowytsch die Stunde der großen Abrechnung ein. In den Ministerien, im Staatsapparat, in den Medien, auf regionaler und lokaler Ebene wurden Unterstützer der Oppositionsparteien oder unabhängige Experten durch Parteigänger des Staatspräsidenten und Mitglieder von Oligarchenclans ersetzt. Clans die ihn unterstützt hatten, seine nächste Umgebung bildeten und nun ihren Anteil an der Beute forderten. Insider schwankten in ihren Einschätzungen, in wie weit Janukowytsch dabei selbst die treibende Kraft war oder von den untereinander rivalisierenden Oligarchen getrieben wurde. Hass und Rachebedürfnis auf alles gerichtet, was nach der Orangenen Revolution und ihren Folgen aussah, waren entscheidende Motive der Kampagne und der damit verbundenen politischen Verfolgungen. Mehrere Minister der Regierung Tymoschenko landeten unter teilweise absurden Anschuldigungen im Gefängnis, der nie wirklich reformierte Sicherheitsdienst griff auf Methoden der Einschüchterung und Kontrolle zurück, die man bereits überwunden glaubte. Julia Tymoschenko sah sich lange vor ihrer Inhaftierung als das prominenteste Opfer und sollte rechtbehalten.

Ein weiteres Markenzeichen der Machtausübung von Viktor Janukowytsch und seinen Getreuen prägte die Vorbereitung des Sporthöhepunktes, den Bau der Stadien und die Infrastrukturprojekte. Gier und Bereicherungssucht der Politiker, allen voran der Staatspräsident selbst, ließen Milliarden in dunkle Kanäle wandern. Von Ausschreibungen nach europäischen Standards konnte keine Rede sein. Korruption und Willkür bestimmten die Vergabe von Aufträgen und Dienstleistungen. Die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, ohnehin mit einer unfähigen, trägen Verwaltung und mit Milizionären konfrontiert, die eher Wegelagerern als Gesetzeshütern gleichen, sahen ohnmächtig einer kleptokratischen Orgie zu. Ihre Vorfreude auf die Spiele, ihre Gastfreundschaft, der Ruf ihres Landes wurden in Frage gestellt – was blieb war Bitterkeit.

Je näher der Termin der Eröffnung der Spiele im Juni rückte, umso drängender wurde die Frage nach dem Schicksal der ehemaligen Ministerpräsidentin, die in der Haft schwer erkrankte. An Julia Tymoschenko scheiden sich in der Ukraine die Geister und auch international sind die verschiedensten Urteile zu hören. Für die Einen ist ihr Charisma längst erloschen, hat sie ihren Ruf als Politikerin, die das Land in eine europäische Zukunft führen wollte, unwiederbringlich verspielt. Andere verweisen auf ihre lange Geschichte, die Höhen und Tiefen kannte, die sie nach einer ersten Inhaftierung 2002 zur Volksheldin werden ließ und sagen ihr ein politisches Comeback voraus. Unstrittig ist die Absurdität der Vorwürfe, die zu ihrer Inhaftierung und Verurteilung in einem ersten Prozess führten. Sie solle in ihrer Zeit als Ministerpräsidentin finanzielle Schäden für die Ukraine in dreistelliger Millionenhöhe verursacht haben, weil sie auf das russische Preisdiktat bei Erdgaslieferungen einging. Kenner der Vorgänge wissen, dass Tymoschenko in den damaligen Moskauer Verhandlungen bis zuletzt kämpfte aber mit der russischen Drohung konfrontiert wurde, ansonsten den Gashahn zuzudrehen. Im Winter 2008-2009, als diese Verhandlungen geführt wurden, zitterte halb Europa bei dieser Aussicht und Julia Tymoschenko musste nachgeben.

 

Zwei weitere Strafvorwürfe und damit anstehende Prozesse, die in die Neunzigerjahre zurückgehen, sind noch absurder. Sie gipfeln in der Anschuldigung, Tymoschenko habe als enge Vertraute des damaligen Ministerpräsidenten Pawel Lasarenko ein Mordkomplott gegen einen damaligen Donezker Gouverneur und Mafiaboss angezettelt. Er wurde im Stadion von Donezk in die Luft gesprengt. Selbst harte Kritiker Tymoschenkos verweisen darauf, dass Janukowytsch diesen Kreisen viel näher stand und vom Tod des Mafioso unmittelbar profitierte. Der damalige Ministerpräsident Lasarenko wurde vor einem Jahrzehnt in den USA wegen Geldwäsche verurteilt und dürfte für eine Aussage nicht zur Verfügung stehen.

Es ist die Absurdität der Anschuldigungen, es sind die Szenen aus dem Gerichtssaal, welche einen schaudern lassen und es ist die Krankheit Tymoschenkos, welche jetzt die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf ihre Person richtet. Übersehen wird dabei schnell, dass sie zwar das mit Abstand bekannteste aber bei weitem nicht einzige Opfer ihrer Gegner ist. Juri Luzenko, der ehemalige Innenminister der Regierung Tymoschenko, wurde zu mehreren Jahren Straflager verurteilt. Anklagepunkte waren, er habe seinem Chauffeur zu einer unberechtigt hohen Rente verholfen und seinen Milizionären eine Feier zu üppig ausgerichtet. Auch er ist in der Haft erkrankt und wird nicht angemessen medizinisch behandelt. Zahlreiche weitere Beispiele gibt es.

 

Empörung und Proteste, die in der Ukraine aufflammten aber nicht in die Fläche gingen, auf den Julia und ihre Anhänger hofften, wurden zunehmend auch aus dem Ausland hörbar. Nachdem alle Bemühungen fehlgeschlagen waren, Janukowytsch auf diplomatischem Wege, bei öffentlichen und vertraulichen Begegnungen zum Einlenken zu bewegen, wurde und wird der Ruf nach Sanktionen und einem politischen Boykott der Spiele immer lauter. Peinlich ist nur, wenn sich dabei Politikerinnen und Politiker am lautesten geben, die in der Vergangenheit nicht durch ihr Interesse für den demokratischen Weg der Ukraine auffielen, die sich nicht darum kümmerten oder immer schon wussten, dass die Ukraine eigentlich nicht zu Europa gehört. Oft sind es die gleichen Politiker und europäischen Repräsentanten, die sich nicht im mindesten daran stören, dass Moskau bei der erneuten Amtseinführung Wladimir Putins wirkte, als sei es von einer Neutronenbombe heimgesucht wurden, dass dort Woche für Woche friedliche Demonstranten niedergeknüppelt, terrorisiert und inhaftiert werden.

Der Vergleich der Janukowytsch- Herrschaft mit Belarus zeugt von einer Ignoranz, die sich der komplizierteren Realität verweigert. Alle geschilderten Kennzeichen der Machtausübung des ostukrainischen Autokraten in Rechnung gestellt, lassen die Ukraine noch lange nicht zu einer Diktatur belarussischen Typs werden. Legal existierende und im Parlament vertretene Oppositionsparteien, Medien in denen noch Pluralität existiert, eine Zivilgesellschaft, deren Selbstbewusstsein noch nicht gebrochen wurde, das vorhandene Demonstrationsrecht, sind Realität. Im Herbst stehen Parlamentswahlen an, deren Ausgang noch offen ist, selbst wenn die gegenwärtigen Machthaber versucht haben, die Wahlordnung zu ihren Gunsten zu verändern. Es wird an der immer noch zerstrittenen politischen Opposition liegen, ob sie ihre Chancen auf einen erneuten politischen Wandel wahrnimmt.

 

In der Offenheit dieser Situation, über die Fußball Europameisterschaft hinaus, sehen aufmerksame Beobachter noch einen weiteren Grund für die Starrheit Janukowytschs. Die Furcht davor, dass die gehasste Konkurrentin, in Freiheit gesetzt, doch noch zur Symbolfigur im nächsten Wahlkampf wird, ist groß. Außerdem ist die vom Staatspräsidenten geführte Partei der Regionen alles andere als ein einheitlicher Block. Ökonomische Interessen der beteiligten Oligarchen, Machtaspirationen und Konkurrenzen der Akteure überlagern sich. Janukowytschs Misstrauen gegenüber den eigenen Leuten ist so groß, dass er die Schaltstellen und Pfründe seiner Macht zunehmend auf Mitglieder seiner eigenen Familie überträgt.

 

Polen tut sich als Mitveranstalter der Spiele und erklärter Fürsprecher der Ukraine naturgemäß am schwersten mit vollmundigen Boykott -Erklärungen. Adam Michnik und andere polnische Intellektuelle fordern zur aktiven Solidarität mit der ukrainischen Opposition auf und verurteilen die politisch motivierten Verfolgungen. Sie äußern aber klar, warum ein Boykott der Spiele für sie nicht in Frage kommt.

 

Alexander Tymoschenko, der in das Prager Exil ausgewichene Mann der Inhaftierten, sieht die Zweischneidigkeit von Boykottdrohungen, die auch den Stolz der normalen Ukrainer verletzten würden. Er spricht sich für gezielte Sanktionen aus, gerichtet auf einen engen Kreis von politischen Verantwortungsträgern. Ihre westlichen Konten gehörten eingefroren, gegen sie sollten Einreisesperren verhängt werden. Das könnte ein wirksamer Weg sein, selbst wenn sich Tymoschenkos Optimismus, seine Frau werde die nächste ukrainische Präsidentin sein, nicht unbedingt bestätigen muss. Einig in der Forderung nach ihrer Freilassung, rufen jüngere Vertreter der ukrainischen Opposition und Zivilgesellschaft dazu auf, eine Erneuerung des politischen Lebens mit anderen Personen anzugehen und sich dabei auf einen langen Weg vorzubereiten. Ihr Appell an die europäischen Politiker und Fußballfans, sich die Spiele anzusehen, dabei aber jede Gelegenheit zu nutzen, das Land und seine Zukunftschancen besser kennenzulernen und politisch aufzutreten, sollte nicht ungehört bleiben.

 

 

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