In einem unfertigen Land

Die Ukraine vor den Parlamentswahlen 2007

aus: Die Welt, 29. September 2007

 

von Wolfgang Templin

 

Wo in aller Welt liegt Kirowograd? Selbst geübte Ukrainereisende müssen hier einen Moment überlegen. Irgendwo in der Mitte zwischen Kiew und Odessa, zwischen Lemberg im Westen und Donezk im Osten. Kirowograd ist die Hauptstadt einer der zentralukrainischen Regionen, noch am westlichen Ufer der Dnipro gelegen, aber bereits an der Grenze zwischen der Wald- und Steppenzone. Die Industriestadt mit 300 000 Einwohnern ist kein Touristenmagnet. Hier spielt sich das ganz normale ukrainische Provinzleben mit all seinen Brüchen und Widersprüchen ab. Das fängt beim letzten Namensgeber der Stadt an. Sergej Kirow, enger Kampfgefährte Stalins, dessen Ermordung die großen Säuberungswellen der 30er Jahre auslöste, thront auf seinem Denkmal auf dem größten Platz der Stadt. Gregori Sinowjew, dessen Namen die Stadt vor 1934 trug, war unter Stalin in Ungnade gefallen und erschossen worden. Im Stadtrat tobt seit Jahren der Kampf zwischen patriotischen und postsowjetischen Kräften, ob man nicht zum ursprünglichen Namen der Stadt Jekaterinoslaw zurückkehren sollte. Der wiederum könnte an die russische Zarin Katherina erinnern, wenn man ihn nicht mit der heiligen Jekaterina verbindet.

 

Spuren der Geschichte in der Stadt sind die Reste einer alten Kosakenfestung, die vor den Einfällen der Tataren schützen sollte, ein großes Memorial für die sowjetischen Verteidiger der Ukraine in der Zeit des 2. Weltkriegs und ein jüngerer Zeit errichtetes Holzkreuz, das an die Opfer des "Kommunistischen Genozids" erinnert. Die Ukraine kann den sowjetischen Teil ihrer Geschichte, in der Ukrainer nicht nur Opfer sondern auch stalinistische Täter waren, nicht auslöschen, muss ihn aber verarbeiten. Sie muss sich von der Last postsowjetischer Traumata und ideologischer Überfrachtung befreien und auf ihre eigenständige nationale Geschichte als östlicher Teil Europas zurückkommen.

 

Vom Wahlkampf in der Ukraine ist in diesen späten Septembertagen in Kirowograd nicht allzu viel zu merken. Einträchtig nebeneinander stehen die Wahlkampfzelte der Partei der Regionen, Julia Tymoschenkos Bjut und der Präsidentenpartei Unsere Ukraine- Nationale Selbstverteidigung zu Füßen des Denkmals von Sergej Kirow. Die Matadoren der großen Parteien sind schon vorbeigezogen und haben sichtbar wenig Spuren hinterlassen. Wie in den meisten Regionen der Zentralukraine hat sich der Wahlblock der kämpferischen Julia Tymoschenko auch hier gut platziert. Ob dies ausreicht, das ostukrainische Übergewicht Viktor Janukowitschs in Frage zu stellen und zusammen mit dem neuen Wahlbündnis Viktor Juschtschenkos die Mehrheit zu stellen, bleibt bis zum letzten Moment fraglich.

 

Das größte Kino der Stadt "Morgenröte" wird zur Attraktion im mehrfachen Sinne. Auf historischer Spurensuche bietet sich der russische Film „Mongolen“ an, ein Epos über frühe mongolische Dynastien und Stammesfehden, mit grandiosen Landschaftsaufnahmen. Mitten im Film geht das Licht aus. Das ganze Kino ist ins Dunkel gehüllt - Stromausfall im ganzen Viertel. Nach einigen Minuten wächst die Unruhe im zumeist jugendlichen Publikum. Taschenlampen der Platzanweiser, Feuerzeuge und Handys setzen vereinzelte Lichtpunkte. Ohne ersichtlichen Grund erschallen "Juschtschenko, Juschtschenko" Rufe. Da der Stromausfall anhält endet der Kinobesuch in einer hitzigen Debatte mit dem Kinopersonal. Die Leute wollen ihr Geld zurück und bekommen das Angebot, sich die Vorstellung am nächsten Abend anzusehen.

 

Wer wie ich, mit vierzigjähriger DDR- und Ostblockerfahrung durch die Ukraine reist, weiß den Symbolwert dieser und zahlreicher anderer Szenen und Eindrücke zu schätzen. Mehr als 15 Jahre nach der Unabhängigkeit und knapp drei Jahre nach der Revolution auf dem Majdan ist die Ukraine ein Land mitten im Umbruch. Die Spuren des Alten und die Zeichen des Neuen überkreuzen und verschlingen sich. Wer in die Kaufhäuser und Supermärkte nicht nur in Kiew sondern mitten in der Provinz, wie hier in Kirowograd geht, trifft auf ein Angebot von Lebensmitteln, Garderobe und technischen Geräten wie in anderen EU-Ländern auch. In Kirowograd haben diese Einkaufstempel so nette Namen wir "Sparbüchse" oder "dicke Tasche". Für eine mittlere Großstadt gibt es bereits viel zu viele davon, versichert mir Nina, eine ukrainische Freundin. Die ausländischen Produkte sind auch nicht für jeden erschwinglich, weil sie oft doppelt so viel wie die ukrainischen kosten. In unmittelbarer Nähe der Einkaufsparadiese drängen sich Buden, Kioske und kleine Stände, die ein ganz anderes Warensortiment anbieten. Hier werden Pilze, Beeren und Honig auf ausgebreiteten Zeitungen angeboten und aber auch aller möglicher Ramsch. Wer mit umgerechnet 50 Euro Rente im Monat auskommen muss, findet hier einen Nebenverdienst.

 

Noch näher am realen Leben in der Ukraine ist man in dem sogenannten "Chruschtschowkas", den noch unter Nikita Chruschtschow erbauten Plattenbausiedlungen. Nina, die Lehrerin ist, wohnt mit ihrer Familie hier. Romantik des Verfalls könnte man hier empfinden, beim Gang durch die begrünten Zwischenhöfe, mit Bänken und Sitzgruppen, schwatzenden älteren Leuten und den überall präsenten halbwilden Hunden und Katzen. Wer in der Lage ist zu renovieren, der renoviert. Die ukrainische Privatisierung hat die meisten Bewohner zu Eigentümern gemacht, aber das Tauziehen um die Reparaturen an den Gebäuden, den Erhalt und die Erbneuerung der maroden Infrastruktur und die Bezahlung der kommunalen Dienstleistungen ist zermürbend. Mitten zwischen den Gebüschen und Spielplätzen sind überall Betonsockel mit kleinen Lüftungsrohren zu sehen. . Hier war einmal ein Deutscher, der fragte, ob wir hier Luftschutzbunker gebaut hätten, lacht Nina. Diese Bunker sind Vorratsbehälter für Kartoffeln und Gemüse, weil die Keller unter den Häusern zu warm sind. Für viele Familien ist der eigene Gemüsegarten eine wichtige Einnahmequelle. Auffallend in der Ukraine ist der Gegensatz zwischen dem zur Schau gestellten Luxus der Neureichen und der bitteren Armut z.B. älterer oder behinderter Menschen. Lehrer geben Nachhilfestunden und machen Übersetzungen, nahezu alle Intellektuelle haben Zweit- oder Drittberufe, pensionierte Armeeangehörige arbeiten als Wachpersonal und erhalten ihren Lohn bar auf die Hand. Ein dichtes Netz von Alltagkorruption umfasst alle Lebensbereiche und reicht von Gefälligkeiten bis zu handfesten Summen. Offiziell ist das Gesundheitswesen kostenlos, aber jeder weiß, wovon die Qualität einer Behandlung abhängt. Offiziell gibt es festgelegte Zugangs- und Prüfungsordnungen für die Hochschulen. Häufig genug sind jedoch die Summen bekannt, um auf die vorderste Liste der Kandidaten zu rutschen.

 

Prorussische oder Proeuropäische Orientierung der Ukraine, der Sprachenstreit und das Verhältnis zur sowjetischen Vergangenheit markieren weiter entscheidende Bruchlinien, die auch den gegenwärtigen Wahlkampf bestimmen. Russland als größter östlicher Nachbar wird weiter eine zentrale Rolle spielen. Die proeuropäischen Kräfte versuchen die Nähe zu Russland nicht zu verleugnen, dem Nachbar dennoch mit dem Anspruch eigenständiger Entwicklung auf Augenhöhe zu begegnen, nicht als Teil seiner Einflusszone. Ein großmachtfixiertes Russland unter Putin versuchte bisher, die Abhängigkeit zu beizubehalten. Innenpolitisch weiß jede der drei großen und die zahlreichen kleineren Parteien um die Brisanz der sozialen Frage, um die Teuerungsraten, die die Einkommenssteigerungen auffressen und um das Versagen der öffentlichen Hand in vielen Fragen. Alle Parteien haben soziale Forderungen und Versprechen in ihren Wahlprogrammen, deren Einlösung aber zweifelhaft ist.

 

Juri Luzenko, der Spitzenkandidat des Präsidentenblock verspricht das Kebsgeschwür der Korruption mit aller Härte angehen. Viktor Janukowitsch verkauft eine positve Regierungsbilanz und seine Politik im Sinne der osturkainischen Oligarchen als „Wohlstand für alle“. Seine Gegenspielerin Julia Tymoschenko ist nicht nur in der ganzen Ukraine mit einem sozialpolitischen Programm unterwegs. Sie reist auch zu den ukrainischen Arbeitsemigranten, um sie zur Rückkehr für das Aufbauprojekt einer neuen Ukraine zu bewegen.

 

"Hoffentlich nehmen sie nicht wieder alle den Mund zu voll" stöhnt ein ukrainischer Freund, "sonst können wir wirklich niemand mehr glauben"

 

zurück